In diesem Jahr geht der Literaturpreis Ruhr mal wieder nach Berlin (und ein wenig auch nach Zürich …) – Gerd Herholz vom Literaturbüro Ruhr in Gladbeck, das den Preis vergibt, weist immer wieder gerne darauf hin, dass viele gute Schriftsteller aus dem Ruhrgebiet ihre Heimat verlassen und dem Ruf der großen Medienstädte folgen. Andererseits ist es bei einem Blick auf die Liste bisheriger Preisträger nicht von der Hand zu weisen, dass es diesen Autoren anscheinend leichter fällt, sich in diesen Metropolen Gehör zu verschaffen und somit weit mehr für den Ruf des Ruhrgebiets tun konnten als so mancher, der über den Tellerrand bislang nicht herauskam. Nach Ralf Rothmann (1996) und Marion Poschmann (2005) ist es nun Judith Kuckart, die ihre Verbundenheit zum Ruhrgebiet eher aus der Ferne pflegt.
„Ruhrgebiet ist fast ein sentimentaler Begriff. Es ist die Zeit für mich, in der es gerade noch die Hochöfen gab, wegen denen ein Teil der Männer in der Generation vor mir früh gestorben ist. Ruhrgebiet, das sind auch die Frauen mit den schwarz oder rot oder gelb gefärbten Haaren, die beim Frühstück noch immer rauchen und sich auch immer gern nach dem nächsten Mann umsehen“, äußert sich Judith Kuckart rückblickend.
Am Anfang war der Tanz
Geboren wird Judith Kuckart 1959 in Schwelm, so weit am äußersten Rand des Ruhrgebiets, dass sich in manchen Biographien die Bezeichnung „Schwelm bei Wuppertal“ eingeschlichen hat. Schon in der Schule hat sie eine Vorliebe für Aufsätze, doch lange Zeit gilt ihre größte Aufmerksamkeit und Liebe nicht der Sprache als Ausdrucksform, sondern dem Tanz. Was bereits vor ihrer Einschulung mit Ballettunterricht beginnt, mündet in eine Tanzausbildung an der Folkwang- Schule in Essen und die Gründung einer eigenen Tanzkompanie. Dieses Tanztheater „Skoronel“ leitet sie von 1986 bis 1998 mit Uraufführungen unter anderem am Schauspiel Wuppertal oder am Berliner Ensemble. Das erste eigene Tanzstück „Kassandra“ überträgt den gleichnamigen Roman Christa Wolfs in Bewegung.
Neben ihrer Tanzausbildung studiert Judith Kuckart allerdings auch Literatur- und Theaterwissenschaften in Köln und Berlin. Ihre Magisterarbeit über Else Lasker-Schüler wird im S. Fischer Verlag veröffentlicht – was für wissenschaftliche Arbeiten eher ungewöhnlich ist.
Eine Lektorin des S. Fischer-Verlages ist es dann auch, die 1989 Judith Kuckarts literarisches Talent erkennt: In einer Auftragsproduktion der Oper Duisburg arbeitet „Skoronel“ zusammen mit den „Einstürzenden Neubauten“. Um den Schallwänden der Band mehr entgegenzusetzen als stillen Tanz, schreibt Kuckart für die Tänzerinnen auch Text. Diese Texte sind so überzeugend, dass die besagte Lektorin im Anschluss an die Aufführung in die Garderobe kommt und einen Tag später bereits einen Vertrag zückt mit den Worten „Ich glaube, Sie können Romane schreiben.“ Weil Kuckart ohnehin gerade ein neues Projekt mit sich herumträgt, das zu einem Tanz- oder Theaterstück hätte werden sollen, sagt sie zu. Und so erscheint 1990 ihr Debütroman „Wahl der Waffen“. Seitdem sind zahlreiche Werke entstanden, vom Roman über Erzählungen bis hin zu Theaterstücken und Hörspielen. „Skoronel“ hat sich 1998 aufgelöst, doch dem Tanztheater bleibt Judith Kuckart als freie Regisseurin verbunden.
Körpersprache auf Bühne und Papier
Judith Kuckarts Prosa profitiert von ihrer Liebe zum Tanz ungemein. Selten findet man in der Literatur ein solch feines Gespür für Gesten und Körpersprache. Auch in den Biographien ihrer Figuren finden sich regelmäßig Verweise zur Bühne.
Mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien wurde ihr sprachliches Können bereits vielfach gewürdigt. Mit dem Literaturpreis Ruhr allerdings wurde Judith Kuckart in diesem Jahr ausgezeichnet, weil ihr Werk immer noch einen starken Bezug zur Region aufweist. Insbesondere ihr aktuellster Roman „Die Verdächtige“, mit dem sie 2008 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, erscheint der Jury preiswürdig: Marga Burg gibt eine Vermisstenanzeige auf, ihr Freund ist auf der Kirmes in eine Geisterbahn eingestiegen und nicht mehr herausgekommen. Die Suche nach Mathias führt Marga und den ermittelnden Kriminalbeamten quer durch das Ruhrgebiet. „Die Verdächtige“ verknüpft auf leichtfüßige und spannende Weise Krimi mit Liebesgeschichte.
Ruhrgebiet ohne Wunder
Auch, wenn sie in Berlin und Zürich Wurzeln geschlagen hat, kann sich die Autorin sehr wohl vorstellen, eines Tages wieder ins Ruhrgebiet zu ziehen, denn „es ist ein wunderbarer Ort, auch wenn dort keine Wunder stattfinden.“ Hiermit nimmt sie Bezug auf den Kongress, der unlängst in Bochum stattgefunden und sich dem „Literaturwunder Ruhr“ verschrieben hat. Sie rät, mit dem Wort „Wunder“ vorsichtig umzugehen, denn die „gibt es in der Bibel und ganz selten im Leben“. Nichtsdestotrotz beobachtet sie die Entwicklungen in Hinblick auf die Kulturhauptstadt RUHR.2010 durchaus neugierig. „Ich habe viele Freunde im Ruhrgebiet, unter anderem am Theater Essen“ – und so bleibt sie der Region weiterhin verbunden, auch wenn sie nach der Preisverleihung am 17. November in Gladbeck wieder nach Berlin zurückgefahren ist...
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