Die beiden Ausstellungshallen im Obergeschoss des Kunstmuseums Mülheim sind genial. In ihrer Ausdehnung und der relativen Entsprechung, sich gegenüber liegend und getrennt durch das Treppenhaus, strukturieren sie die Präsentationen und können einzelne Aspekte dialogisch wieder aufgreifen. Das trifft nun erst recht auf die Ausstellung von Alice Könitz zu. In der einen Halle sind ihre eigenen Werke ausgestellt und in der anderen die ihrer Künstlerfreunde: Die Künstlerin verwandelt sich in eine Kuratorin. Aber so genau kann man die Rollen nicht trennen, zu sehr ist alles miteinander verflochten, schon indem in beiden Hallen ein und das gleiche System zur Präsentation der Einzelwerke dient, das von ihr selbst entworfen wurde. Gebaut aus horizontalen, teils übereinander gelagerten, im Grundriss quadratischen Hohlkörpern aus Holz, durch die Metallrohre stoßen, ist dieses für sich bereits Skulptur.
Ausgehend von ihrer Ausbildung als Bildhauerin, repräsentiert Alice Könitz in ihrem ganzen Werk einen zeitgenössischen Künstlertypus, der Seitenwechsel, Kollaborationen und Prozesse der Partizipation als Strategien vornimmt und sich folglich nicht allein auf ein Medium beschränkt. Schon der Begriff des Skulpturalen wird von Alice Könitz offen verstanden und berührt sich mit Design und Mobiliar, auch mit alltäglichen Dingen, welche in einen exklusiven Status transformiert werden. In der Ausstellung in Mülheim wechselt das künstlerische Verfahren von Werk zu Werk, schon deshalb, weil der Standort Mülheim für Könitz mit der eigenen Kindheit und Jugend, also mit Erinnerung zu tun hat, die sich selbst ihre Verfahren der Visualisierung sucht. Die Verkehrsleitwege der Stadt, die täglich frequentierte Haltestelle, sogar Musik aus dem Nachbarhaus, der Rauch der Zigarette, die taktile Stofflichkeit von Kleidung: All das kommt in ihren neuen Arbeiten vor, die sie nach der Straße oder dem Standort benannt hat. Aus Styrum „stammt“ der modellhafte Sprungturm, der über dem Environment aufragt und ein Gefühl von Nostalgie verbreitet. Die Lünette, die Könitz als Kind über einer Haustür bewundert hat, hat sie nun als Keramik nachgebildet und hierbei von ihrer eigentlichen Zugehörigkeit gelöst. Das Reminiszente ist mit einem leichten Humor verbunden, indem die buntfarbigen Formen der Platzgestaltung von Otto Herbert Hajek zu Sitzpolstern mutieren, der Zigarettenautomat aus Sperrholz besteht oder eine Zeichnung Mireille Mathieu zeigt.
Alice Könitz wurde 1970 als Tochter des Bildhauers Peter Könitz in Essen geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Sie studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Herbert Kiecol und bei Tony Cragg und setzte das Studium dann in Kalifornien fort, wo sie bis heute – in Los Angeles – lebt. Dort hat sie auch vor einigen Jahren ihr Konzept des LAMOA entwickelt: Das ist ein vor ihrem Atelier errichteter offener Pavillon mit einem Regalsystem, in dem sie von Zeit zu Zeit Werke befreundeter Künstler ausstellt. In Mülheim ist nun also eine temporäre Außenstelle errichtet mit dem begehbaren Display, in dem der Betrachter immer wieder neue Standpunkte einnimmt. Die beteiligten Künstler stammen aus Düsseldorf und Kalifornien, aber auch aus Wien aufgrund der Kontakte, die Könitz zu den österreichischen Stipendiaten des Schindler-Hauses in Los Angeles hat. In ihrem Arrangement stellen sich nun etliche Referenzen und Verweise ein bzw. kann der Betrachter für sich selbst Bezüge herstellen, etwa beim kinetischen Objekt von Peter Könitz zu einer Uhr, die noch formal mit dem Sprungturm in der anderen Halle korrespondiert. Ganz erstaunlich ist der Film von Andreas Fogarasi, der nichts als die Logos deutscher Städte zeigt. Und an der Wand hängen Wolfgang Liesens großformatige Zeichnungen, die wie ein Kommentar zum architektonischen Charakter der Installation wirken, aber aus den 1970er-Jahren stammen. Auch hier wird die Zeitreise von Alice Könitz fortgesetzt. Dass das alles eine spielerische Leichtigkeit behält, ist ein weiteres Kunststück dieser erfrischend vielschichtigen, angenehm geheimnisvollen Ausstellung.
Das Los Angeles Museum of Art (LAMOA) präsentiert: Mülheim/Ruhr und die 1970er-Jahre. Eine Ausstellung von und mit Alice Könitz | bis 4.2. | Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr | 0208 455 41 38
Lesen Sie auch unser Interview mit Alice Könitz aus der September-Ausgabe von trailer-ruhr.de: „Wichtig, dass Kunst Gedanken öffnet“
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