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Dirk Baier
Foto: ZHAW

„Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern“

26. Juli 2024

Teil 2: Interview – Kriminologe Dirk Baier über Gewaltkriminalität und Statistik

trailer: Herr Baier, einige Gewalttaten haben zuletzt Aufsehen erregt. Es heißt nun oft, die Gewalt auf den Straßen werde schlimmer. Nimmt sie zu?

Dirk Baier: Da kommt es immer sehr drauf an, was wir als Ausgangspunkt des Vergleichs nehmen. Wenn wir die Coronajahre 2020 und 2021 nehmen, hatten wir ein sehr niedriges Niveau, insbesondere von Straßengewalt. Das wundert aber auch niemanden, weil es gewisse Einschränkungen des öffentlichen Lebens gab, wodurch weniger Menschen sich in der Öffentlichkeit bewegt hatten und es weniger Mobilität in und aus dem Ausland gab. Deswegen ist das ein denkbar ungünstiger Vergleich, der spielt aber eine sehr große Rolle, insbesondere bei der Vorstellung der Kriminalstatistiken vor ein paar Monaten: Da wurde eben der Vergleich 2021 – 2022 gezogen und da wurden schon recht deutliche Anstiege ersichtlich. Aber die lassen sich meines Erachtens nach durch die Normalisierung des Alltags erklären. Wenn wir ein wenig mehr in die Vergangenheit gehen, etwa zum Anfang der 2000er, haben wir heute ein niedrigeres Niveau. Und wenn wir mal richtig weit in die Vergangenheit gehen: es gibt Statistiken, die reichen bis ins Mittelalter, da waren schwere Körperverletzungen, Raubtaten, Tötungsdelikte viel, viel verbreiteter. Also, in der ganz langen Betrachtungsweise gibt es einen Prozess der Zivilisierung der Gesellschaften, das heißt wir sind auf dem Weg, weniger gewalttätig zu werden. Aber kurzfristig können sich da schon mal ein paar Änderungen ergeben und wir leben in einer Zeit, in der die Medien eine gewaltige Bedeutung haben und die meisten Erfahrungen, die die Menschen mit Gewalt und Kriminalität machen, haben sie aus den Medien, nicht weil sie selbst damit konfrontiert sind. Ein Delikt wie die Tötung des Polizisten in Mannheim kann unsere Bilder und Eindrücke enorm prägen, gerade auch weil es so intensiv diskutiert und emotionalisiert wird. Im längerfristigen Vergleich sinken die Zahlen, das muss man wirklich sagen.

Es heißt auch, die Hemmschwelle sinke und vermehrt würden Waffen, etwa Messer, eingesetzt. 

Das ist etwas, das ich seit zwanzig Jahren höre. Schon 2005 als ich angefangen habe, mich mit Kriminalität und Gewalt zu beschäftigen, wurde ich bei Vorträgen gefragt: Ist heute nicht alles brutaler, wird heute nicht noch auf den eingetreten, der schon am Boden liegt? Das gab es früher nicht. Das ist ein Narrativ, das sich seit Jahrzehnten am Leben erhält. Das Schöne ist, da gibt es tatsächlich ein, zwei Studien, die ganz detailliert das Schadensbild von Gewalttaten ausgewertet haben – gab es eine Fraktur, gab es keine Fraktur beispielweise, auch im Zeitvergleich. Diese Studien kamen immer zum gleichen Befund: Gewalt wird nicht brutaler. Prinzipiell ist Gewalt natürlich immanent brutal, aber dass es eine Steigerung gebe, mehr Delikte mit schlimmen Verletzungen, das geben die Daten nicht her. Die Brutalisierungsthese deckt sich nicht mit den Befunden die wir haben. 

„Die Brutalisierungsthese deckt sich nicht mit den Befunden"

Viele Stimmen meinen, Migration führe zu einem Anstieg von Gewalt.

Ich glaube tatsächlich, dass wir dieses Thema auch zukünftig nicht mehr loswerden. Es gibt eben politische Interessengruppen, die das nutzen, um Stimmung zu machen, Ängste in der Bevölkerung zu schüren, beziehungsweise ihre Position damit zu legitimieren, vor allem rechte Parteien, und je stärker die werden, desto stärker präsent ist dieses Thema. Von daher sind wir in der Kriminologie auch gefordert, uns damit zu beschäftigen und Stellung zu beziehen. Wir machen das aber auch schon seit dreißig Jahren. Es heißt ja immer, das sei ein Tabu, diese Zahlen sehe sich niemand an. Das ist völliger Unsinn, es gibt aus den 1990ern schon Untersuchungen, wo man sich dieses Thema angesehen hat. Man kann im Prinzip sagen, dass die Herkunft auf den ersten Blick mit Kriminalität in Zusammenhang steht: Personen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, Personen mit Migrationshintergrund, treten häufiger als Tatpersonen in Erscheinung, insbesondere auch im Gewaltbereich, als einheimische Deutsche – was immer einheimische Deutsche heißt, das ist schon schwieriger zu definieren. Das geben die Kriminalstatistiken her, das bezweifelt auch niemand, dass das so ist. Das ergeben auch Dunkelfeldstudien, in denen wir einfach die Menschen befragen, was sie erlebt haben, was sie auch schon selbst begangen haben, gerade bei Jugendlichen funktioniert das ganz gut. Das findet man in verschiedenen statistischen Quellen. Unser Punkt ist nur, das kann keine Erklärung für Gewaltverhalten sein. 

Was erklärt es stattdessen?

Mit diesem Merkmal einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit sind eben soziale, persönliche Merkmale verbunden, die mit Gewalt einhergehen: Nicht-Deutsche leben in sozial schlechteren Lebenslagen, sind öfter arbeitslos, haben die schlechteren Jobs, die weniger Einkommen generieren, haben teilweise geringere Bildungsabschlüsse. Das sind kriminogene Merkmale, die, auch wenn sie auf Deutsche zutreffen, zu mehr Gewalt führen. Dann haben wir kulturelle Merkmale, vor allem die Erziehung von Kindern, die in bestimmten Migrantengruppen noch häufiger mit Gewalt stattfindet. Gewalt erzeugt weitere Gewalt, das wissen wir. Es sind also weniger positive Erziehungsstile, die junge Menschen dann auch zu Gewalt treiben, die dadurch auch bestimmte Bilder im Kopf haben, die ihnen nahelegen, ihre Probleme mit Gewalt zu lösen. Da, in den sozialen persönlichen Umständen, finden wir die Antwort auf ihre höhere Gewaltbereitschaft. Gewalt und das Tragen von Messern sind keine Fragen des Passes, sondern es sind Fragen der persönlichen und sozialen Umstände. Dass wir das so intensiv und aus meiner Sicht auch sehr einseitig diskutieren, hat meiner Meinung nach mit der vermeintlich einfachsten Lösung zu tun, die da wäre zu sagen: Wir müssen einfach alle Nicht-Deutschen aus Deutschland abschieben, oder gar nicht erst reinlassen. Das ist richtigerweise nicht so einfach, da gibt es natürlich Gesetze, die das verhindern. Denn die überwältigende Mehrheit der Migranten, der Nicht-Deutschen, ist überhaupt nicht kriminell, es geht hier um einen winzigen Prozentsatz. Daher ist auch diese scheinbar einfache Lösung völliger Unsinn. 

„Diese Idee, dass Herkunft eine wichtige Information wäre, ist falsch.“

Der Migrationshintergrund eines Täters wurde in der Berichterstattung früher kaum erwähnt. Das hat sich geändert. Wie sollten Medien damit umgehen?

Schwierig. Meine Handlungsempfehlung wäre, über die Herkunft überhaupt nicht zu berichten, weil sie keine Ursache für das kriminelle Verhalten ist. Inzwischen ist es tatsächlich so, dass auch auf Druck von politischen Akteuren, beziehungsweise dem wahrgenommenen Druck durch Vorwürfe, man würde es absichtlich verschweigen, dass man wieder darüber schreibt, es dann aber auch erwähnt, wenn der Täter deutscher Herkunft ist. Das Problem ist aber, dass diese Information für den Leser nicht gleich wichtig ist: In Mannheim hatte ein afghanischer Geflüchteter einen Polizisten angegriffen und getötet – zwei Tage später hat ein Deutscher im Erzgebirge seine Eltern und Großeltern ermordet. Das hat bei weitem nicht so viel Aufmerksamkeit erzeugt. Das Nicht-Deutsche hat einen viel höheren Anschlusswert, darum wird darüber viel mehr diskutiert. Wer das liest, fühlt sich bestätigt und denkt: Ah ja, diese Afghanen, und so weiter. Wenn da „deutsch“ steht, wird es überlesen. Das heißt, beides gleichermaßen zu berichten, ist am Ende nicht gleich ausgewogen. Daher könnte man aus meiner Sicht komplett drauf verzichten, diese Information zu berichten. Diese Idee, dass das eine wichtige Information wäre, ist falsch. Wichtiger wäre, hat der Mensch eine schwere Kindheit gehabt? Wurde er von seinen Eltern verprügelt? Welche Ausbildung hat er? Aber diese Informationen erhebt die Polizei nicht, sie fragt: wo ist es passiert, war es ein Mann oder eine Frau, welche Staatsangehörigkeit hat die Person. Das fließt dann auch in die Statistiken ein. Auf diese Information zu verzichten wäre das Konsequenteste, das werden wir unter dem derzeitigen gesellschaftlichen Klima aber nicht hinbekommen. Deshalb wäre es meiner Meinung nach wichtig, dass man kontextualisiert: Dass man diese Information nicht so darstellt, als würde sie irgendetwas erklären, dass man dazu schreibt, dass es extrem seltene Einzelfälle sind, dass es kein Muster ist, das sich in Deutschland gerade ausbildet. Es gab ein paar Messerangriffe, die Deutschland „in Atem gehalten haben“ – aber die Fälle in Schleswig-Holstein und in Mannheim hängen ja nicht im Geringsten miteinander zusammen. Man kann den Medien nicht vorwerfen, dass sie darüber berichten; aber was zum Beispiel Tötungsdelikte an Polizisten angeht: Wir hatten Jahre, in denen es null Tötungsdelikte an Polizisten gab. Es wäre wünschenswert, es mehr in den Zusammenhang zu stellen, aber ansonsten ist da nicht viel, das Medien tun können. Zumal die Qualitätsmedien, die das noch einigermaßen versuchen, dem ganzen Strom der sozialen Medien hoffnungslos ausgesetzt sind. Auch wenn sie versuchen zu kontextualisieren: das meiste passiert ganz woanders. Da wird ungefiltert jeglicher Müll verbreitet und sehr viele Menschen informieren sich mittlerweile eben über die sozialen Medien. Es ist schön, dass Medien sich Gedanken machen, aber die Musik spielt halt leider woanders. Und da wird in schlimmster, hassender Form über Dinge geredet, da wird auch jeder zum „Journalist“, weil es keine journalistischen Standards mehr gibt. Das ist zurzeit nicht regulierbar, aber es ist auch extrem schädlich, was unserer Wahrnehmung von Kriminalität angeht. 

„Dann bleibt einem nur der eigene Körper, die eigene Männlichkeit“ 

Gewisse Männlichkeitsbilder sollen mit einer Neigung zu Waffen und Gewalt einhergehen. Ist das ein Konflikt „Moderne gegen Tradition“? 

Ich bin immer vorsichtig mit solchen doch sehr allgemeinen, makrosoziologischen Diagnosen. Ich finde, Männlichkeitsnormen sind ein wichtiger Aspekt, aber wir müssen auch hier sehen, dass es genug deutsche Jugendliche gibt, die diese Männlichkeitsnormen internalisiert haben, weil sie in den Familien eben ein Stück weit dahingehend sozialisiert werden: mit einem patriarchalischem System, einem Vater, der dominant ist, zum Teil Gewalt ausübt, in Familien, die sozial weniger erfolgreich sind. Dann bleibt einem im Prinzip nur noch der eigene Körper, bei Männern die eigene Männlichkeit und Stärke, das findet sich häufig genug auch bei deutschen Familien. Auch bin ich der Meinung, dass das kein Problem des Islam ist. Ja, wir wissen, bei türkischen und libanesischen Jugendlichen ist das verbreiteter, aber eben nicht nur da und auch da wissen wir: 80 Prozent der jungen türkischen Männer stimmen solchen Männlichkeitskonzepten nicht zu. Auch da ist es ein kleiner Teil, der sonst wenig Perspektiven hat. Von daher sind die Lebensumstände mit dem Festhalten an solchen Orientierungen verbunden. Deswegen fällt es mir schwer, es auf einen Nenner zu bringen. Es ist etwas, das uns weiterhin begleitet, aber von Tradition kann man da auch nicht wirklich sprechen, denn wir wissen auch, das bei manchen Migrantengruppen diese Normen reaktiviert werden: Die Eltern hatten sie eigentlich schon abgelegt, aber dann sind es plötzlich die Jugendlichen, die diese Männlichkeitsnormen wieder als wichtig erachten, weil sie ansonsten Schwierigkeiten haben, in die Gesellschaft zu kommen. Als Reaktion auf die ausbleibende Integration zieht man sich wieder darauf zurück.

Haben sich Pandemie und Lockdowns auf die Gewaltbereitschaft ausgewirkt?

Die Befundlage ist tatsächlich nicht eindeutig – die Frage, was hat Corona mit den jungen Menschen gemacht bzw. im Nachgang noch ausgelöst hat. Was wir relativ gesichert sagen können, ist, dass die ganze Zeit der Beschränkungen des öffentlichen Lebens, der persönlichen Freiheiten, insbesondere bei Jugendlichen zu Ängsten, Depressionen, zu nach innen gerichteten Störungen geführt hat. Das ist per se erstmal keine Ursache für spätere Gewaltverhaltensweisen, es kann eher Ursache für selbstschädigendes Verhalten sein. Es gibt Hinweise, dass suizidale Gedanken wieder zugenommen haben, das ist recht sicher, es hat etwas es mit den Psychen der jungen Menschen angerichtet. Aber da ist nicht direkt der Link zu Gewaltverhaltensweisen gegeben, denn solche Dinge werden auf unterschiedliche Weise verarbeitet. Bei jungen Männern, die grundsätzlich Schwierigkeiten haben, ihre Emotionalität richtig zu deuten und auszudrücken, kann es durchaus sein, dass sie daraufhin, auf diese Depressivität mit Gewalt reagiert haben. Das ist ein Muster, das wir eher von Männern kennen, weniger von Frauen: dass Depressivität ausagiert wird. Was zuletzt auch vermehrt diskutiert wird, ist, dass die Schulschließungen, der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen aber auch zu anderen Erwachsenen als den eigenen Eltern, die sozialen Kompetenzen von jungen Menschen reduziert hat. Sie wissen weniger, wie man sich unter Gleichaltrigen verhält, dass man sich nicht immer körperlich durchsetzt. Die Phase des Lockdowns könnte ein Stück weit das Erlernen bestimmter sozialer Kompetenzen bei jungen Menschen verhindert haben. Und das könnte auch dazu führen, sobald man wieder Kontakt hat, dass man sich mit Gewalt durchsetzt, mit Messern beispielsweise. Die Schulen waren sehr lange geschlossen und wenn man ein halbes Jahr zuhause bleibt, sich seine Welt aus Computerspielen aufbaut und dann wieder auf die Welt losgelassen wird, kann das durchaus in sehr spezifischen Fällen zu Gewalt führen. Aber das sind Überlegungen, gute Studien dazu sind mir noch nicht bekannt. Soll heißen: Ja, Corona hat bei jungen Menschen seine Spuren hinterlassen, die dazu führen können, dass Gewalt zunimmt. Ich will aber zwei Aber dazusetzen: Das erste Aber besteht darin, dass wir bereits vor Corona einen Anstieg im Gewaltverhalten gesehen haben, insbesondere in Befragungsstudien, die wir durchgeführt haben. Diese Entwicklung hat nicht erst in den vergangenen zwei Jahren begonnen, von daher hat Corona wohl eher so wie ein Durchlauferhitzer gewirkt. Das zweite Aber ist: wenn wir in andere Länder sehen, wie etwa in der Schweiz, in der ich mich gerade aufhalte, hatten wir dort deutlich weniger restriktive Maßnahmen. Schulschließungen gab es einmal für sechs Wochen, danach nicht mehr. Die Entwicklung ist, was die Verläufe angeht, in der Schweiz aber sehr mit der in Deutschland vergleichbar. Also die Coronamaßnahmen alleine können es auch nicht gewesen sein. Deswegen bin ich grundsätzlich etwas skeptisch, was Corona angeht, das hat so etwas von Entlastung: Es gab eine riesige Veränderung in der Gesellschaft und die hat viele schlimme Dinge angerichtet. Ich glaube es ist komplizierter, die Dinge haben sich auch schon vorher in eine schlechte Richtung entwickelt – auch wenn wir nicht genau wissen warum, müssen wir aufpassen, dass wir uns keine eine einfache Erklärung zurechtlegen. 

„Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern“

Führt der Gebrauch sozialer Medien zu mehr Eskalation? 

Das hatten wir tatsächlich auch schon mal in den 2000ern intensiv diskutiert, „Happy Slapping“ war damals das Schlagwort. Auch damals haben wir schon festgestellt: Jugendliche begehen Taten nicht, um sie zu filmen und anschließend zu verbreiten. Das ist sozusagen Beifang bei gewaltsamen Konflikten – irgendjemand ist dabei, der es eben filmt, aber man tut es nicht wegen des Filmens. Heute mag sich die Situation tatsächlich etwas verändert haben, etwas wie Tiktok gab es damals noch nicht und wir sehen, dass bestimmte Tiktok-„Challenges“ bestimmte kriminelle Verhaltensweisen auslösen, Ladendiebstahl zum Beispiel. Das macht jemand vor und sagt: Mach du es auch und filme dich dabei, dann bist du Teil eines Trends und bekommst Anerkennung. Tiktok kann also bestimmte kriminelle Verhaltensweisen auslösen, bei Gewalt bin ich mir da noch nicht ganz so sicher. Aber grundsätzlich glaube ich, dass wir schon wieder in einem neuen Medienzeitalter leben – es ist nicht mehr das gleiche Internet wie vor fünfzehn, zwanzig Jahren, als es noch langsam und langweilig war. Heute sind wir schneller unterwegs, gerade Tiktok ist für junge Menschen fast schon zu einer zentralen Quelle von Anerkennung geworden. Das heißt, wenn du nicht bei Tiktok bist, bist du nichts. Das zweite ist, dass man natürlich immer mit Grenzüberschreitungen Aufmerksamkeit erregen kann. Das 50. Schmink-Video nimmt niemand so ernst, als etwa ein Video, in dem jemand auf einer Straßenbahn mitsurft. Alles was aufregend ist, Grenzen überschreitet, hat wahrscheinlich mehr Sichtbarkeit. Von daher denke ich schon, dass das ein Stück weit den Jugendalltag rahmt und auch zu grenzüberschreitenden, kriminellen Verhalten motivieren kann. Aber man muss auch dazu sagen, dass mittlerweile jeder junge Mensch in den sozialen Medien aktiv ist – kriminell werden trotzdem nur drei Prozent. Da muss also noch etwas dazu kommen. 

Härtere Strafen oder konsequente Anwendung bestehenden Rechts. Was hilft eher? 

Das Problem bei dem Thema ist die Frage: Kann man mit Gesetzen und Strafrecht Kriminalität verhindern? Wenn es so einfach wäre, müsste man einfach fürs Schwarzfahren die Todesstrafe verhängen und schon würde niemand mehr schwarzfahren. Das wird natürlich nicht passieren, weil viele Menschen aus einer Not heraus schwarzfahren müssen, aus Unüberlegtheit, aus einer Mutprobe heraus, es gibt ja ganz unterschiedliche Motive. Wenn Menschen das tun, spielt in der Regel keine Rolle, welche Strafe zu erwarten ist. Die Leute wissen in der Regel, dass es nicht erlaubt ist, aber welche Strafe darauf steht, spielt keine Rolle. Sonst würden ja Ehemänner auch nicht ihre Frauen umbringen. Gerade für Gewaltdelikte, diese impulsiven Taten, spielen Gesetzesrahmen überhaupt keine Rolle. Darum kann man sie auch nicht verhindern. Für instrumentelle Delikte, Einbrüche und ähnliches, da spielt weniger der Strafrahmen eine Rolle, als die Möglichkeit, erwischt zu werden und sich verantworten zu müssen. Wenn ich weiß, es ist sehr wahrscheinlich, dass ich erwischt werde, lasse ich es eher sein. Aber dieser Effekt ist auch nicht sehr groß. Ein anderer Rahmen ist nicht das Gesetz, sondern die Effizienz, die die Polizei und andere Akteure bei der Aufklärung an den Tag legen. Man muss daher einfach sagen: Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern, es sind andere Mechanismen nötig. Wir müssen Menschen sozialisieren, sie dahin bringen, dass sie auf solche Dinge verzichten, und das lösen Gesetzesvorgaben nicht. Gesetze haben eine andere Funktion, sie geben bestimmte Signale in die Gesellschaft: Diese Dinge sind strafbar, wir als Gesellschaft entscheiden uns, gewisse Verhaltensweisen als nicht mehr akzeptabel einzustufen und dann erlassen wir Gesetze, auch, um dieses Symbol in die Gesellschaft zu senden. Das ist wichtig, aber man sollte es nie mit einer präventiven Maßnahme verwechseln. Wenn wir über härtere Strafen sprechen, man hat das jetzt etwa ein paar Mal rund um Rettungskräfte getan, ich glaube, man hat zweimal das Strafmaß erhöht – mittlerweile kann bis zu eineinhalb Jahre Haft für Angriffe auf Polizisten oder Rettungskräfte erhalten. Trotzdem gibt es weiterhin viele Übergriffe auf diese Personengruppen. Grundsätzlich finde ich es nicht falsch, Gesetze dafür zu benutzen, Signale in die Gesellschaft auszusenden; aber man wird damit keine Straftaten verhindern. Die Politik kann nicht viel mehr tun, als Gesetze zu erlassen, aber man sollte keine falschen Erwartungen damit verbinden. Gerade von Strafverschärfungen weiß man, dass sie keine Straftaten verhindern werden.

„Menschen zum Guten hin zu verändern, ist schwierig“

Wie schätzen sie die Wirksamkeit präventiver und rehabilitierender Maßnahmen ein?

Auch das sind alles keine Zaubermittel. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, es müssen gar nicht unbedingt Therapien sein, es können auch Lernprogramme sein, mit denen man einübt, wie man sich in bestimmten Situationen verhält. Männer, die mit Gewalt aufgefallen sind, kann man einfach mal in zehn, fünfzehn Gruppensitzungen schicken, wo sie auf andere Personen treffen, die gewalttätig geworden sind; und in diesen Sitzungen lernen sie, ihre Probleme anders als mit Gewalt zu lösen. Was die präventive Seite angeht, findet viel in den Schulen statt, wo man jungen Leuten Empathie und Selbstkontrolle beibringen will. Bei all diesen Dingen ist aber der Grundtenor: Es verändert nicht alle Menschen zum Positiven. Menschen zum Guten hin zu verändern, ist eben schon eine schwierige Sache. Wir haben alle unserer Routinen und unsere Besonderheiten, und Menschen von ihren negativen Besonderheiten wegzubekommen, ist intensive Arbeit und bei Person A bedarf es etwas anderen als bei Person B, das muss man erst einmal herausfinden. Deshalb sind weder Prävention noch Rehabilitation für alle hilfreich und können alles verhindern. Und dann wird natürlich wieder die Frage gestellt, brauchen wir das überhaupt, wenn es dann bei einigen Personen doch nicht hilft? Wir wissen aber auch, im Durchschnitt hilft es eben schon. Zum Beispiel durch Maßnahmen in Schulen die dazu beitragen sollen, sich besser in andere Menschen hineinzuversetzen – im Durchschnitt werden die Menschen dadurch besser, nicht jeder einzelne, aber die Gruppe. Von daher ist das der Weg, den wir gehen müssen, wenn wir wirklich daran interessiert sind, Kriminalität zu verhindern, Opferschaft zu verhindern: Dann müssen wir intensiver daran arbeiten, mehr Maßnahmen anbieten, damit wir im Zweifelsfall durch die Kombination jeden Einzelnen erreichen können. Das ist teuer, es braucht engagierte Menschen, die bereit sind, solche Programme zu leiten, in Schulen zu gehen, gut ausgebildete Menschen – es ist eben ein teurer Spaß. Da klingt es einfacher, Menschen lange weg zu sperren, das ist letztlich aber sogar der teurere Spaß, wenn man es wirklich sachlich gegeneinander aufrechnet. Von daher gibt meines Erachtens zu präventiven und rehabilitierenden Maßnahmen keine Alternative, aber man darf nicht versprechen, dass sie alle und jeden erreichen. 

Interview: Christopher Dröge

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