Der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2023 zeichnet ein düsteres Bild: Danach ist die Zahl extremistisch motivierter Straftaten vor allem aufgrund des Nahostkonflikts rapide angestiegen, besorgniserregend die zunehmende Gewaltbereitschaft religiöser und politischer Gruppen. Im Europawahlkampf machten Attacken auf Politiker:innen von sich reden. Der Tod des Polizisten Rouven Laur in Mannheim sorgte für Bestürzung.
Die Gewaltbereitschaft äußert sich dabei nicht nur in körperlichen Angriffen, auch Drohungen, Beleidigungen und Belästigung sind Gewalttaten. „Gewalt definieren wir sowohl als physische wie auch als psychische Einwirkung auf das Opfer“, erklärt Stephanie Ihrler, Leiterin der Außenstelle des Weissen Rings in Bochum. Der bundesweit aktive Verein setzt sich für Kriminalitätsopfer ein und hat seit seiner Gründung im Jahr 1976 ein Netz von rund 2.700 ehrenamtlichen Helfer:innen und über 400 Außenstellen aufgebaut.
Nach der Straftat
In Bochum unterstützt Ihrler Kriminalitätsopfer gemeinsam mit 15 Mitarbeiter:innen. „Wir verstehen uns zunächst als Lotsen im Hilfesystem“, sagt sie. „Das heißt wir unterstützen die Geschädigten bei der Suche nach weiteren Ansprechpartnern wie Therapeuten, Ärzten oder psychosozialen Prozessbegleitern. Wir begleiten zu Terminen bei der Polizei oder zu Ämtern.“ In persönlichen Gesprächen werden dabei die Bedürfnisse der Betroffenen ermittelt. „Letztlich entscheiden wir in jedem Einzelfall, welche konkrete Hilfe wir anbieten können“, erklärt Ihrler. Auch bei der Überbrückung von tatbedingten finanziellen Notlagen kann der Weisse Ring in Einzelfällen helfen –Schadensersatz bei Diebstählen oder Betrugsfällen kann jedoch nicht geleistet werden.
Die Straftaten, mit denen Ihrler in Bochum zu tun hat, decken den gesamten Bereich des Strafgesetzbuches ab. „Wir sind konfrontiert mit Diebstahl, Raub, Sexualdelikten, Nötigungen, Betrug, Erpressungen und Tötungen“, berichtet sie. Auch extremistische Taten beschäftigen sie und ihr Team – bislang konnte sie in Bochum jedoch keinen Anstieg der extremistischen Verbrechen beobachten. Um möglichen Delikten vorzubeugen, plant die Bochumer Außenstelle auch Präventionsaktionen. Bereits in der Vergangenheit hat sich der Weisse Ring an einem Netzwerk örtlicher Sicherheitspartner beteiligt, das unter anderem den „Sicherheitstag“ gestaltet.
Fragwürdiger Trend
Ein Thema, das den Weissen Ring standortübergreifend außerdem beschäftigt, ist die Kommerzialisierung von Gewalt durch True Crime-Formate: Unter #TrueCrimeReport hinterfragt die Redaktion des Vereins, was es bedeutet, echte Mordfälle als Nervenkitzel zu präsentieren. Sie kritisiert geschmacklose Titel, Sensationalismus und voyeuristische Tendenzen. Darüber hinaus erhöhe der Trend die Gefahr von Retraumatisierungen, da durch mehr True Crime-Formate auch mehr erschütternde Geschichten in die Öffentlichkeit gelangten, zudem teils ohne Einwilligung der Opfer. Die häufig zur Verteidigung des True Crime-Booms angeführten präventiven Effekte seien zweifelhaft, so die Analyse des Weissen Rings: Drei Viertel der Fälle, die in deutschsprachigen True Crime-Podcasts behandelt werden, seien Mordfälle – obwohl sogenannte Straftaten gegen das Leben lediglich ein Tausendstel der Strafdelikte ausmachten. Häufigere Delikte wie häusliche Gewalt fänden in den Podcasts hingegegen kaum Beachtung. Ob True Crime nun moralisch verwerflich ist oder sogar hilfreich sein kann, mag diskussionwürdig bleiben. Für den Weissen Ring ist klar: Professionelle Opferhilfe ersetzt es nicht.
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Machtspiele
Intro – Gewaltrausch
Der andere Grusel
Teil 1: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
„Prüfen, ob das dem Menschen guttut“
Teil 1: Interview – Publizist Tanjev Schultz über ethische Aspekte der Berichterstattung über Kriminalfälle
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 2: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
„Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern“
Teil 2: Interview – Kriminologe Dirk Baier über Gewaltkriminalität und Statistik
Hilfe nach dem Schock
Teil 2: Lokale Initiativen – Opferschutz bei der Kölner Polizei
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
„Eltern haben das Gefühl, sie müssten Buddhas werden“
Teil 3: Interview – Familienberaterin Nina Trepp über das Vermeiden von psychischer Gewalt in der Erziehung
Häusliche Gewalt ist nicht privat
Teil 3: Lokale Initiativen – Frauen helfen Frauen e.V. und das Wuppertaler Frauenhaus
Fessel für die Freiheit
Elektronische Fußfessel für häusliche Gewalttäter – Europa-Vorbild: Spanien
Blutige Spiele und echte Wunden
Gewalt in den Medien: Ventil und Angstkatalysator – Glosse
Bildung für Benachteiligte
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe in Bochum
Ein neues Leben aufbauen
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Verein Mosaik Köln Mülheim e.V. arbeitet mit und für Geflüchtete
Ankommen auch im Beruf
Teil 3: Lokale Initiativen – Bildungsangebote für Geflüchtete und Zugewanderte bei der GESA
Lebendige Denkmäler
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Route Industriekultur als Brücke zwischen Gestern und Heute
Spenden ohne Umweg
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Netzwerk 2. Hand Köln organisiert Sachspenden vor Ort
Zivilcourage altert nicht
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Verein zur Erforschung der Sozialen Bewegungen im Wuppertal
Immer in Bewegung
Teil 1: Lokale Initiativen – Sportangebote für Jugendliche im Open Space in Bochum
Jenseits der Frauenrolle
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Spieldesignerin und Label-Gründerin Mel Taylor aus Köln
Zusammen und gegeneinander
Teil 3: Lokale Initiativen – Spieletreffs in Wuppertal
Europa verstehen
Teil 1: Lokale Initiativen – Initiative Ruhrpott für Europa spricht mit Jugendlichen über Politik
Zu Gast in Europas Hauptstadt
Teil 2: Lokale Initiativen – Die europäische Idee in Studium und Forschung an der Kölner Universität
Verbunden über Grenzen
Teil 3: Lokale Initiativen – Wuppertal und seine europäischen Partnerstädte
Korallensterben hautnah
Teil 1: Lokale Initiativen – Meeresschutz im Tierpark und Fossilium Bochum
Was keiner haben will
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Kölner Unternehmen Plastic Fischer entsorgt Plastik aus Flüssen