Lornas Schweigen
B/F/I/D 2008, Laufzeit: 105 Min., FSK 12
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Darsteller: Jérémie Renier, Arta Dobroshi, Fabrizio Rongione
Die Albanerin Lorna ist eine Scheinehe mit dem Junkie Claudy eingegangen, um die belgische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Danach könnte sie als Belgierin Geld viel verdienen, indem sie eine Scheinehe mit einem Russen eingeht. Aber zunächst muss sie Claudy loswerden.
Die Dardenne-Brüder feiern seit Jahren Kritikererfolge, die seines gleichen suchen: 1999 erhielten Jean-Pierre und Luc Dardenne für ihren Film „Rosetta“ ihre erste Goldene Palme in Cannes, außerdem den Preis für die beste Darstellerin. Der Nachfolger „Der Sohn“ war ebenfalls nominiert, erhielt aber stattdessen den Sonderpreis der Jury und den für den besten Darsteller. Für „Das Kind“ erhielten sie 2005 ihre zweite Goldene Palme. Das ist bislang nur fünf weiteren Regisseuren gelungen. In diesem Jahr gab es für „Lornas Schweigen“ dann wieder nur einen kleinen Preis für das beste Drehbuch. Das sind lediglich die Preise, die sie in den letzten zehn Jahren beim wichtigsten Filmfestival der Welt erhielten. Wie ist der Erfolg zu erklären?
Die Kunst der Aussparung
In „Der Sohn“ zeigten die belgischen Regisseure noch einen offensichtlichen Gestaltungswillen. In dem Drama um einen Schreiner, der in seinem neuen Lehrling den Jungen erkennt, der am Tod seines Sohns Schuld ist, ist die nervös wackelnde Kamera von großer Aufdringlichkeit. Der psychische Stress überträgt sich fast eins zu eins durch die Kamera auf den Zuschauer – die Bilder rücken den Protagonisten und in gewisser Weise auch dem Betrachter regelrecht auf den Leib. Ihr letzter Film war ruhiger angelegt, die Bilder stellenweise sogar von unerwarteter Schönheit in ihrem klaren Minimalismus. „Lornas Schweigen“ scheint abgesehen von dem obligatorischen Verzicht auf Filmmusik weitgehend befreit von ästhetischen Konzepten. Das ist natürlich ein Schein, der nur aufgrund einer sorgfältig erdachten Schlichtheit entstehen kann. Was bei genauerer Betrachtung auffällt, ist die konsequente Fixierung nicht nur der Handlung und Perspektive, sondern ganz konkret der Bilder auf die Protagonistin. Die Kamera lässt von Lorna, in ihrer Widersprüchlichkeit hervorragend gespielt von Arta Dobroshi, nicht ab und beobachtet all ihre Regungen genau. Die vielleicht größte Macht entfaltet der Film aber dort, wo er nicht ist. „Lornas Schweigen“ ist ein Gangsterfilm, ein Thriller. Aber er spart den Thrill aus. Es ist ein Film der Auslassungen. Wie kunstvoll kalkuliert diese Auslassungen sind, das sieht man gar nicht mal. Man spürt es aber. Mehr noch: Jean-Pierre & Luc Dardenne inszenieren diese Aussparungen auf eine Art, die einen förmlich vor den Kopf stößt. In einer Szene sieht man, wie Lorna dem entgifteten Claudy fröhlich hinterher winkt, als er mit dem Rad in die Stadt fahren will. Nun ist alles bereit für die geplante Scheidung. Oder wird etwas ganz anderes passieren? Lorna und Claudy haben in der Nacht zuvor miteinander geschlafen. Wider Erwarten ist eine Nähe zwischen den beiden Eheleuten entstanden, die doch eigentIich nur eine geschäftliche Vereinbarung miteinander verband. In der nächsten Szene sitzt Lorna in der Wohnung auf dem Boden und legt die Kleidung von Claudy ruhig, fast zärtlich zusammen. Hat sie sich vielleicht sogar in ihren Zweck-Ehemann verliebt? Was dann ganz ohne große Dramatik folgt, offenbart den Hintergrund der Auslassung und zieht einem förmlich den Boden unter den Füßen weg.
Geld und Gewalt
In „Lornas Schweigen“ gibt es zwei Wege der Kommunikation: Geld und Gewalt. Letzteres kann ein Schlag auf den Kopf sein – hier gibt es ihn mehrfach. Ersteres kann Träume erfüllen, ein schlechtes Gewissen beruhigen oder Schweigen erkaufen. In den von den Dardenne-Brüdern thematisierten Milieus kann man zur Not seinen eigenen Körper („Lornas Schweigen“), sogar das eigene Kind verkaufen („Das Kind“). Ihre Kapitalismuskritik setzt nicht oben, sondern unten an. Die Genauigkeit, mit der die Dardennes das Hin- und Herreichen des Geldes beobachten, erinnert an den Ausnahmeregisseur Robert Bresson. „Das Geld“ von 1983, Bressons letzter Film, beobachtet betont unterkühlt, wie die Zirkulation des Geldes das Böse anschiebt. Der Blick auf Lorna ist jedoch alles andere als kühl: Wie auch schon in ihren bisherigen Werken zeigen die Dardennes trotz aller Sachlichkeit großes Mitgefühl für ihre Protagonistin. Lornas moralischer Kampf, ihre Entscheidungsnot und schließlich ihr Versuch, aus den sie umgebenden kriminellen Zusammenhängen auszubrechen, wird von den Dardennes in fürsorglicher Nähe begleitet. Die fürsorgliche Nähe begleitet sie schließlich in einen anderen Raum. Der Zuschauer merkt es noch nicht gleich. Bei den belgischen Brüdern erschließen sich dem Zuschauer wegen der oft wortlosen Beobachtung die Zusammenhänge erst allmählich. Da ist Lorna längst woanders, muss, um sich zu retten, woanders sein. Denn es gibt kein gutes Leben im schlechten. Man muss das Ende trotzdem nicht unbedingt religiös verstehen.
Die Dardennes haben längst ihr eigenes filmisches Universum erschaffen. Ihr Blick auf die Welt wird im Kino der unsrige. Wir lernen, mit den genau und behutsam beobachtenden Augen der Dardennes zu gucken. Diese Schule des Sehens haben die Brüder fast bis zur Perfektion ausformuliert. Die kleinen Nuancen der Veränderung von Film zu Film werden so zu großen Ereignissen.
(Christian Meyer)
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