Sean Bakers Filme behandeln seit vielen Jahren Sexarbeit in unterschiedlichsten Formen. Seine Protagonist:innen sind selbstbestimmte Heldinnen und Helden, die bei jeder Notlage versuchen, ihre Würde zu behalten. „Wir haben einen merkwürdigen Punkt erreicht, bei dem wir uns mit Gewalt wohler fühlen als mit Sex“, sagt er, und hält dagegen. So auch in seinem neuen Film „Anora“, mit dem er in diesem Jahr die Goldene Palme in Cannes gewinnen konnte. In einer Strip-Bar lernt die Mittzwanzigerin Anora den jugendlichen Oligarchen Ivan kennen. In Las Vegas heiraten beide spontan. Doch Ivans Eltern sind wenig begeistert und hetzen ihre Aufpasser auf das Paar. Die Ehe soll annulliert werden. Baker spielt in „Anora“, anders als bei seinen bisherigen Filmen, verschiedene Genres durch, die man in dieser Deutlichkeit nicht erwarten konnte. Aber zwischen all diesen temporeichen Wechseln verändern sich die Figuren – Ivan, die Aufpasser der Eltern und nicht zuletzt Anora – kaum merklich, passen sich an die neuen Situationen mal besser, mal schlechter, mal sehr schlecht an. Aber auch Letzteres unterfüttert Baker stets mit Humor und Wohlwollen. Und wenn man das turbulente Treiben um die Figuren und ihren Versuch, sich in ihrer Welt zu behaupten, bis fast zum Ende gut unterhalten begleitet hat, dann tischt der Film dank einer großartigen Regieleistung und nicht zuletzt dank einer fantastischen Mikey Madison als Anora eine der berührendsten Schlussszenen der jüngeren Filmgeschichte auf. Mal sehen, ob Bakers Film die erstaunliche Liebesgeschichten-Müdigkeit des Publikums in den Orkus schicken kann.
Andres Veiels „Riefenstahl“ ist nicht der erste Dokumentarfilm über Leni Riefenstahl, der versucht, Licht in den zwischen Verehrung, Verleumdung und Totschweigen angesiedelten Lebenslauf der Künstlerin zu bringen. Eigentlich dachte man, es sein schon alles bekannt und gesagt über ihre Nähe zu den Machthabern der NS-Zeit und ihre Propaganda für das Nazi-Regime, die sie nach dem Krieg so standhaft leugnete und sich stets als ahnungsloses Opfer stilisierte. Nun gelang es Veiel und seiner Produzentin, der TV-Moderatorin Sandra Maischberger, Einsicht in den in 700 Kisten verstauten Nachlass Riefenstahls zu bekommen. Seit 2018 hat er sich durch die Filme, Fotos, Briefe und aufgezeichneten privaten Telefonate gewühlt und das Material dann mit der Unterstützung seines kreativen und sehr eigenständig arbeitenden Schnitt-Teams in die nun vorliegende, filmische Form gebracht. Ohne den Legenden – und teilweise auch Lügen – auf den Leim zu gehen, mit denen Riefenstahl sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs rehabilitieren wollte, um wieder Filme machen zu können, verfolgt er den Werdegang der Tänzerin zur Schauspielerin, Regisseurin und Fotografin klug, informativ und unterhaltsam.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: das nostalgische Doku-Drama „Die Rückkehr des Filmvorführers“ von Orkhan Aghazadeh, der Dokumentarfilm „Dann gehste eben nach Parchim“ von Dieter Schumann, die Stephen-King-Verfilmung „Salem’s Lot – Brennen muss Salem“ von Gary Dauberman, die Woke-Society-Farce „Alter weißer Mann“ von Simon Verhoeven und der Trash-Slasher „Terrifier 3“.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wer stiehlt wem den Stuhl?
Die Filmstarts der Woche
Tolerante Szene
An diesem Abend gehen Kölner Jazzbühnen fremd – Improvisierte Musik in NRW 11/24
Pessimistische Gewürzmädchen
Maustetytöt im Düsseldorfer Zakk – Musik 11/24
Ehrung für ein Ruhrgebiets-Quartett
Verleihung des Brost-Ruhr-Preises 2024 in Bochum – Spezial 11/24
Keine falsche Lesart
Ree Morton und Natalie Häusler im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 11/24
Komm, süßer Tod
„Fauré Requiem“ in der Historischen Stadthalle Wuppertal – Musik 11/24
Klimaschutz = Menschenschutz
„Menschenrechte in der Klimakrise“ in Bochum – Spezial 11/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Hinter Samtvorhängen
Silke Schönfeld im Dortmunder U – Ruhrkunst 11/24
Das Über-Du
Auftakt von Literaturdistrikt mit Dietmar Dath und Wolfgang M. Schmitt – 11/24
Ruhrgebietsfilmgeschichte erleben
„Glückauf – Film ab!“ im Essener Ruhr Museum
Richter daheim
Gerhard Richter im Kunstpalast Düsseldorf – Kunst in NRW 11/24
Konfettiregen statt Trauerflor
Sum41 feiern Jubiläum und Abschied in Dortmund – Musik 11/24
„Mangas sind bei der jungen Leserschaft die Zukunft“
Leiter Alain Bieber über „Superheroes“ im NRW-Forum Düsseldorf – Sammlung 11/24
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Immer in Bewegung
Teil 1: Lokale Initiativen – Sportangebote für Jugendliche im Open Space in Bochum
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Sinfonische Vollender
Gil Shaham in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 11/24
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
Spielend ins Verderben
Wie Personalmanagement das Leben neu definierte – Glosse
Aus Alt mach Alt
Tage Alter Musik in Herne 2024 – Klassik an der Ruhr 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 1: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents