Wir sind frei. So sehe ich das. Selbst wenn wir uns in gewissen Dingen anpassen müssen, würde ich prinzipiell sagen, dass wir in Deutschland frei sind. Wir können gehen wohin wir wollen. Wir können die Art wie wir leben selbstbestimmt und frei wählen. Wir haben die Freiheit der Meinung, der Rede, der Presse, der Religionswahl. Wir können uns Wünsche erfüllen, leben im Überfluss, kein Produkt, das nicht in mannigfacher Ausführung zu bekommen wäre. Wir sind frei unsere Küchenregale, unsere Bäuche, unsere Kleider- und Bücherschränke so zu füllen wie es uns gefällt.
Nicht immer weil wir es brauchen, sondern weil wir es können und wollen. Freiheit halt.
Doch schaut man genauer hin, so ist von Freiheit in vielen Bereichen keine Rede mehr, sondern nur noch von Befreiung. Keine Zeit ist so behaftet von „Frei-vons“ wie unsere. Fast sklavenartig unterwerfen uns Ratgeber in jeder Form und Farbe und zu fast jedem Thema. Wir wollen freier sein von Bauchfett, von Schlacken, von seelischem Ballast, von Schüchternheit, von Nikotin, von Unordnung, von Konsumfallen, von Stress. Von, von, von.
Bevor ich also in diese Ratgeberflut geriet, fühlte ich mich frei, dann kam ich ins Zweifeln. Nehmen wir an, wir möchten mit der persönlichen Befreiung von all den Dingen beginnen, die einem im Sinne von „Frei-vons“ so ans Herz gelegt werden. Wo soll man überhaupt anfangen? Und findet nicht jeder von uns gleich mehrere Punkte, in denen wir also so furchtbar unfrei sind?
Beginnen wir mit „Frei von Planungslosigkeit“, das rät einfach irgendwo zu beginnen, denn der erste Schritt ist ja bekanntlich der wichtigste. Der weitere Weg dann wie folgt. Aufgrund von „Frei-von-Bauchfett“ und „Frei-von-Schlacken“ wird eifrig Sport getrieben und gedetoxt. Im Sinne von „Frei-von-Nikotin“ setzt man sich auf kalten Entzug und endet wahrscheinlich schnell bei „Frei-von-ernüchternden-Rückschlägen“ um gleich nochmal von vorne zu beginnen. „Frei-von-Stress“ bringt dann ein wenig Entspannung, ein warmes Gefühl, das gleich mit „Frei-von-Prokrastination“ wieder ausgetrieben wird. Viel Zeit zum Entspannen hat man wahrscheinlich eh nicht, weil man „Frei-von-seelischem-Ballast“ entweder in Selbsttherapiebemühungen aufgeht oder einen Termin beim nächsten Therapeuten hat.
Mit dem nötigen Durchblick nach Ballastabwurf erscheint die eigene Wohnung dann nicht mehr wie ein Hort des Friedens, sondern muss durch „Frei-von-Unordnung“ von rechts auf links gekrempelt werden. „Frei-von-unnötigem-Besitz“ bewegt uns dazu, mutig Dinge abzugeben oder wegzuwerfen, die man sonst nie hergegeben hätte, aber „Frei-von-Gefühlsduselei“ hilft uns konsequent zu bleiben. Eventuell hilft uns „Frei-von-Reue“ wenn wir Tage später das eine oder andere Ding schmerzlich vermissen. Nachkaufen geht nicht, weil uns „Frei-von-Konsumfallen“ definitiv davon abrät.
Und wenn wir dann frei von allem sind, sind wir dann auch tatsächlich frei? Oder nur noch frei von uns selbst? Haben wir unsere ursprüngliche Freiheit vielleicht durch die gnadenlose Befreiung von so vielen Dingen endgültig verloren? „Frei-von-Zweifeln“ könnte in diesem Fall bestimmt helfen. So recht überzeugen möchte mich das alles nicht. Letztlich gehe ich davon aus, dass man seine Entscheidungen frei treffen sollte, nicht aufgrund von „Frei-vons“. Letztlich würde für mich also nur ein „Frei-von-Frei-vons“ Sinn machen.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
www.philosophieverstaendlich.de | Das Projekt will ein breites Publikum über den Stand der philosophischen Diskussion informieren
www.freedomhouse.org | internationale NGO die weltweit liberale Demokratien fördert und vor allem durch ihre jährlichen Berichte „Freedom in the World“ und „Freedom of the Press“ bekannt ist (auf Englisch)
Thema im August: GLEICHHEIT – Gerechtigkeit für alle: geht das überhaupt?
Solidarität mit wem und wofür? Was finden Sie gerecht? Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Mehr Mut
Bei den 31. Teddy Awards auf der Berlinale ging es um Toleranz – Festival 02/17
Zeigen, was man verstanden hat
„Die Schwarze Flotte“ am Schauspiel Dortmund – Auftritt 11/16
Grenzen der Freiheit
Können wir nur frei sein, wenn wir unsere Freiheit einschränken? – THEMA 07/16 FREIHEIT
„Freiheit ist eine Illusion“
Psychologe Hans J. Markowitsch über die Unfreiheit des menschlichen Willens – Thema 07/16 Freiheit
Ran an die Regeln
Intro – Verspielt
Werben fürs Sterben
Teil 1: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 1: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
Immer in Bewegung
Teil 1: Lokale Initiativen – Sportangebote für Jugendliche im Open Space in Bochum
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 2: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
Jenseits der Frauenrolle
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Spieldesignerin und Label-Gründerin Mel Taylor aus Köln
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
Zusammen und gegeneinander
Teil 3: Lokale Initiativen – Spieletreffs in Wuppertal
Spielglück ohne Glücksspiel
Gegen teure Belohnungen in Videospielen – Europa-Vorbild: Belgien
Spielend ins Verderben
Wie Personalmanagement das Leben neu definierte – Glosse
Wie gewohnt
Intro – Europa
Europäische Verheißung
Teil 1: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 1: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur
Europa verstehen
Teil 1: Lokale Initiativen – Initiative Ruhrpott für Europa spricht mit Jugendlichen über Politik
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
Zu Gast in Europas Hauptstadt
Teil 2: Lokale Initiativen – Die europäische Idee in Studium und Forschung an der Kölner Universität
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
„Der Verkauf des Kaffees nach Europa ist gestoppt“
Teil 3: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz