Jetzt bau doch einer den Grenzzaun ab! Nicht den in Melilla, am Evros, in Bulgarien oder Gibraltar, das schaffen wir dieses Jahr nicht mehr. Aber den auf dieser und unzähligen anderen Theaterbühnen, man kann es im Jahr 1 nach „Wir schaffen das!“ nicht mehr sehen, dieses Symbol einer gnadenlosen globalen Apartheid. Was soll es denn auch bewirken? Die armen Seelen kommen nicht rüber, und wir bleiben auf der anderen Seite allein mit Schuldgefühlen und Mitleid, aufgedrängt von Regisseuren, Dramaturgen und Schauspielern – und verlassen das Theater so blöd wie vorher, nur mit schlechtem Gewissen. Doch „Die Schwarze Flotte“ ist anders. Trotz Grenzzaun. Das wird schon nach wenigen Minuten deutlich. Zu erahnen war es allerdings schon im Vorfeld.
Intendant Kay Voges inszeniert hier eine Recherche des Journalisten-Kollektivs Correctiv: 2015 gingen Cecilia Anesi, Frederik Richter, Giulio Rubino und David Schraven auf die Suche nach Antworten: Wem gehören diese Frachter, bis zum Bersten vollgestopft mit menschlichen Schicksalen? Wer organisiert das Geschäft mit der Flucht, wer verdient daran und um welchen Preis? Die Journalisten ermittelten die Hintermänner, ein Netzwerk aus reichen syrischen Reedern – sie nutzen dieselben Häfen, dieselben Frachter, dieselben Strukturen wie jene zum Drogen- und Waffenschmuggel. Der Mensch, das ist das Ergebnis der Recherche ist eben auch nur eine Ware neben anderen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Ergebnisse von Correctiv künstlerisch aufgearbeitet werden: Die Reportage über den Nazi-Untergrund Dortmunds, „Weisse Wölfe“, erschien zum Beispiel grafisch brillant aufbereitet als Comic. Die Frage ist nun, ob hier im Megastore mehr für den Theaterbesucher zu holen ist, als gut gemeinte szenische Volksaufklärung. – Und ja, das ist es: Correctiv hat die Geschichte hinter der Wand aus Schweigen, Datenchaos und falschen Fährten gefunden, Regisseur Kay Voges und sein Team inszenieren sie eingängig und spannend als klassischen „Whodunit“, Bühnenbild und Musik geben dem Ganzen dann ein wenig Thriller-Ambiente.
Der Detektiv in diesem Szenario ist Andreas Beck, Archetyp eines Journalisten mit einer Leidenschaft fürs Wühlen und Graben und einem Erscheinungsbild irgendwo zwischen Michael Moore und Slavoj Zizek – verzottelt und ungepflegt, kaffeegeschädigt, aber voll bei der Sache. Seefahrer wollte er eigentlich werden. Nun ist er Journalist, der mit Google-Maps, Auszügen aus Datenbanken, Videorekorder und Kamera die Welt verstehen will und jetzt dem Publikum zeigt, was er verstanden hat.
In Zeiten, in denen die schlechten Verlierer (die eigentlich immer noch Gewinner sind) lautstark „Lügenpresse!“ grunzen, wenn sie nicht gerade vor brennenden Flüchtlingsheimen applaudieren, kann man die Relevanz dieses Stückes gar nicht hoch genug einschätzen: Die Akribie, die guter investigativer Journalismus braucht, wird hier nicht nur gezeigt, erklärt und immer wieder durchexerziert sondern – und das ist vor allen Dingen der Verdienst von Schauspieler Andreas Beck – erlebbar gemacht. Zum Beispiel, wenn aus den Namen der Hintermänner endlich Gesichter werden – gefunden vom syrischen Praktikanten des Recherche-Netzwerks, ganz einfach auf den Facebook-Profilen der Geschäftsmänner aus der Schattenwelt. Heureka! Es fühlt sich an wie unser Erfolg, weil wir uns mit Beck gemeinsam durch die Akten wühlten, die Routen der Frachter rekonstruierten von Russland nach Syrien bis zu den Briefkastenfirmen in Griechenland und auf den Marshallinseln, dem „Bermuda-Dreieck der Weltwirtschaft“.
Dass wir am Ende doch belehrt werden über die gut bekannten und bestens ignorierten Waffenexporte unserer eigenen „Weissen Flotte“ stört nicht einmal mehr. Wir erfahren auch die Namen ihrer Kapitäne: Heckler & Koch, KMG und Rheinmetall.
So ist „Die Schwarze Flotte“ nicht nur brillanter investigativer Journalismus, sondern auch großes Theater, das man ohne schlechtes Gewissen verlässt, dafür mit entflammter Neugier und schlauer als vorher. Nicht bloß wegen des reinen Faktenwissens. Sondern, und das unterscheidet die „Flotte“ von vielen politischen Stücken des letzten Jahres, weil uns unsere irre Welt mit all ihren komplexen Verflechtungen vorgeführt wird – und sich letztlich doch als etwas Verstehbares zeigt. Wenn man nur genug Biss hat.
Da kann auch gerne der Grenzzaun stehen bleiben. Auf der Theaterbühne. In Melilla, am Evros, in Bulgarien oder Gibraltar sieht das nochmal anders aus.
„Die Schwarze Flotte“ | R: Kay Voges | Do 10.11., Do 17.11. | Schauspiel Dortmund | 0231 50 27 222
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