Personenkommentar:
Prof. Dr. Hans J. Markowitsch (67) ist physiologischer Psychologe und beschäftigt sich hauptsächlich mit der Erforschung des Gedächtnisses.
trailer: In einem Lied heißt es „Die Gedanken sind frei“. Ist dem wirklich so?
Prof. Dr. Hans J. Markowitsch: Ich sag immer, dass unser Wille und damit unsere Handlungen abhängen von unseren Erfahrungen, vom jetzigen Zustand als Individuum und von unserer biologischen Beschaffenheit, also dem Gehirn. Möglicherweise auch noch von stochastischen Prozessen. Im wesentlichen bedingen die Genetik und die Umwelt wie man agiert, und damit agiert man nicht frei. Und damit kann auch der Wille nicht frei sein. Wie man sich entscheidet wird schon vorher festgelegt, durch das was man an Lebenserfahrungen gemacht hat, durch das was an momentanen Determinanten auf einen einwirkt und die Möglichkeiten, die man eben von seiner Hirnphysiologie oder vom Körper allgemein hat.
Werden uns Entscheidungen also unter anderem anerzogen?
Personenkommentar:
Prof. Dr. Hans J. Markowitsch (67) ist physiologischer Psychologe und beschäftigt sich hauptsächlich mit der Erforschung des Gedächtnisses.
Ganz bestimmt, wahrscheinlich vom pränatalen Stadium an. Die frühe Entwicklung bestimmt eben schon, was wir als gut oder schlecht empfinden, was wir als Handlungsparameter dann später umsetzen.
Wie trifft unser Gehirn Entscheidungen?
Im Regelfall erhält das Individuum Außenreize, die über die sensorischen Systeme auf der Hirnebene weiterverarbeitet werden. Die Reize werden verbunden mit ähnlichen vorhandenen, also assoziiert. Die Reize werden dann abgeglichen, ein Reaktionsplan entworfen, der dann über die Motorik umgesetzt wird.
Meine Erziehung und meine Umwelt kann also meinen Willen beeinflussen?
Sie kann den Willen nicht nur beeinflussen, sondern Erziehung und Umwelt bestimmen die Entscheidungen und so auch den Willen. Freiheit ist eine Illusion, wir haben von Kindesbeinen gelernt, dass wir die Welt bestimmen können. Schon ein kleiner Junge lernt: Wenn ich gegen einen Ball trete, dann fliegt er in eine bestimmte Richtung. Und der Junge glaubt er kann bestimmen wohin der Ball fliegt. Das ist die Illusion die wir uns von Freiheit machen. Ein anderer Psychologe, Wolfgang Prinz, hat auch unter der Fragestellung ob der Mensch frei ist, gesagt: Genauso könnten wir fragen ob der Mensch Räder hat. Der Mensch hat dann welche, wenn er sich ins Auto setzt oder aufs Fahrrad schwingt. So ist es auch mit dem Willen. Wir benutzen quasi Vehikel um uns einzubilden, frei agieren zu können.
Wir haben keinen freien Willen, es ist also alles determiniert?
Ja, es ist determiniert wie wir agieren. Wenn man an bestimmten Stellschrauben dreht, agiert man anders. Ein Beispiel: Jemand ist sein Leben lang ein braver Bürger, erkrankt im Alter an einer Demenz und begeht dann irgendwelche Straftaten. Die Frage die sich dann stellt, gerade heute, wo immer mehr Menschen an Demenz erkranken, ist, ob die Person schuldfähig ist, wenn man feststellt, dass das Gehirn nicht mehr richtig funktioniert. Die Justiz sieht so jemanden als „bedingt schuldfähig“. Dadurch dass ein Hirnschaden da ist, kann man die Person nicht behandeln als wäre kein Schaden vorhanden. Dennoch wird angenommen, dass die Person noch anders hätte handeln können, sie hätte die Straftat nicht begehen müssen. Meine Argumentation ist, dass jeder determiniert ist so zu handeln wie er handelt. In diesem Fall also eine Straftat zu begehen, weil die Hirnanatomie und die -physiologie dieses Handeln erzwingt, er also nicht anders kann.
Wie sieht es dann allgemein mit der Frage nach Verantwortung und Schuld aus?
Ich habe gemeinsam mit Werner Siefer das Buch „Tatort Gehirn“ geschrieben, da geht es genau um dieses Thema. Inwiefern haben Verbrecher ein anderes Gehirn und reagieren deswegen so, wie sie es tun. Dorothy Otnow Lewis, eine amerikanische Neuropsychiaterin, hat Studien zu diesem Thema gemacht. Sie untersuchte z.B. 18 achtzehnjährige Männer, die alle im Todestrakt saßen. Sie hat Ihre Lebensläufe untersucht, psychiatrische und neurologische Tests gemacht. Es stellte sich heraus, dass alle psychiatrische Krankheiten hatten, 17 hatten Hirnschädigungen, ebenso viele waren nur mit einem Elternteil oder als Waisen aufgewachsen. Alle kamen aus sozial schwachen Milieus. Ein anderes Beispiel ist Ulrike Meinhof von der Baader-Meinhof-Gruppe. Lange wurde nicht öffentlich gemacht, dass Frau Meinhof sich erst radikalisierte, nachdem bei Ihr eine Hirnoperation fehlgeschlagen war. Ihr sollte eine Zyste im Bereich der Amygdala entfernt werden. Die Amygdala ist die Hirnregion, die mit Emotionen zu tun hat. Gerade mit dieser Region habe ich mich viel beschäftigt. Man kann feststellen, dass dann, wenn die Amygdala zu wenig oder zu viel stimuliert wird, es zu Gewalt oder emotionaler Verflachung kommt.
Aber es gibt doch auch Menschen deren Lebensläufe nicht gut waren und die dennoch keine Verbrecher werden. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären?
Man muss das Gesamtbild sehen. Es geht ja nicht nur allein um die Beschaffenheit des Gehirns oder die frühkindliche Entwicklung. Dazu kommt der jetzige Lebensstand und wie weit es gegebenenfalls Korrekturfaktoren gab, die anfänglich widrige Umstände ausgleichen. Mädchen beispielsweise, die aus der gleichen Sozialisation kommen, zeigen mehr Empathie als Jungs.Dann kann man oft Menschen, z.B. Tante oder Onkel, finden, die korrigierend eingegriffen haben. Dadurch konnten diese Menschen sog. Coping-Strategien entwickeln, die die Straftäter nicht ausbilden konnten.
Wenn wir keinen freien Willen haben, aber unsere Demokratie auf dem freien Willen aufbaut, was heißt das dann für die Gesellschaft im Allgemeinen?
Der Biologe Gerhard Roth oder auch der Neurophysiologe Wolf Singer schreiben, dass man eigentlich ein neues Ethikgerüst aufbauen müsste. Gerade in Bezug auf Schuld. Aber das entwickelt sich derzeit. Es geht heute nicht mehr um das reine Bestrafen, also ein Auge um Auge, Zahn um Zahn. Man erkennt, dass man sozialisieren muss. Andere Länder sind da schon sehr viel weiter. Norwegen setzt sehr stark auf Resozialisierung. Dort gibt es die Haftanstalt Bastøy, eine Insel, die von den Strafgefangenen bewirtschaftet wird. Die Straftäter müssen sich selbst organisieren. Wachleute gibt es nur sporadisch. Und das Konzept funktioniert. Es gibt also andere Möglichkeiten als die reine Bestrafung. Therapie und Resozialisation, in diese Richtung muss es gehen.
Was bedeutet die Annahme, dass wir keinen freien Willen haben für die Zukunft?
Ich wurde kürzlich in einem Magazin zitiert mit dem Satz: „Jeder Gedanke, jede Lüge hinterlässt eine Spur im Gehirn, Scans davon werden in Zukunft sogar vor Gericht gelten.“ Es ist ja schon jetzt so, insbesondere in den USA. Ich habe es selbst einmal in Berlin Moabit vor dem Oberlandesgericht machen können. Man arbeitet mit Hirnbildgebung. Es gibt eine Reihe Untersuchungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zeigen, ob jemand in einer bestimmten Situation die Wahrheit sagt oder lügt. In meinem Fall ging es um eine Zeugin, die einen Hirnschaden erlitten hatte. Wir wollten herausfinden, ob sie trotz der Verletzung den Beschuldigten richtig identifiziert hat. Was bis heute viele nicht wissen, es ist inzwischen gang und gäbe, dass man Symptomvalidierungstests einsetzt. Im Prinzip kann man damit feststellen ob jemand lügt oder eher bei der Wahrheit bleibt. Ich lasse mir vor einem solchen Test immer die Einwilligungsunterschrift des Betreffenden geben, denn ich denke, dass sich die meisten nicht so viel dabei denken, wie sie es vielleicht sollten.
Wie hat die Erkenntnis, dass wir keinen freien Willen haben, Ihr Leben verändert?
Ich bin toleranter geworden gegenüber Mitmenschen. Wenn ich Fehlverhalten erlebe, sage ich mir oft, dass der Betreffende da nicht viel für kann. Außerdem sieht man sich selbst nicht mehr so streng. Und selbstverständlich kam die Einsicht, dass Menschen nicht so simpel für zurechnungsfähig erklärt werden können, wie es heute noch gehandhabt wird.
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