Essen, 10. Oktober. Natürlich, als der Projektor zum ersten Mal in NRW „Gleißendes Glück" auf die Leinwand warf, war der große Saal der Lichtburg so gut wie voll besetzt. Dennoch, es war eine verhältnismäßig ruhige NRW-Premiere des neuen Films von Sven Taddicken („Emmas Glück", „12 Meter ohne Kopf"): Keine aufgeregten Fans im Teenie-Alter, kein wildes Gewusel unter den Fotografen am roten Teppich – dafür eine Martina Gedeck, die sich Zeit nimmt um Autogramme zu geben, auch Gespräche mit ihren Bewunderern führt – und über Fragen von Journalisten auch etwas länger nachdenkt, bis sie eine Antwort gibt. Denn die Geschichte von Helene Brindel, die zwischen ihrem cholerischen Ehemann Christoph und dem Hirnforscher und Ratgeberautoren Eduard E. Gluck steht, die Geschichte einer leidgeplagten Hausfrau zwischen zwei männlichen Autoritäten, die eine gefürchtet, die andere vergöttert – passt so eine Erzählung überhaupt noch in die heutige Zeit? Haben wir derlei nicht überwunden?
Gedeck denkt lange nach, bevor sie eine Antwort gibt: „Die Begegnung zwischen Helene und Eduard Gluck ist doch etwas ganz reales", sagt sie schließlich: Bewunderung blende die Schattenseiten eines Menschen aus, „Dinge die verborgen sind und unangenehm." Das sei zeitlos. „Aber es ist auch die Geschichte einer Frau, die ausbricht", sagt sie über ihre Rolle. „Es wird zwar nicht viel darübergesprochen, aber es gibt eine erschreckend viel Gewalt in Ehen."
Diese Geschichte (aus der Feder der schottischen Roman-Autorin A.L. Kennedy) beginnt mit Helene, die nicht schlafen kann. Nachts vertreibt sie sich die Zeit, in dem sie ihrem Ehemann das Frühstück vorbereitet oder sich stundenlang durch Fernseh- und Radioprogramm zappt. Dort hört sie das erste Mal von Eduard Gluck. Nach dem nächsten Ausraster ihres Mannes entscheidet sie sich, Gluck bei einem Vortrag in Hamburg zu besuchen. Sie begenet ihm zunächst mit Demut und Respekt. Dann kommen sie sich näher, so nah, bis er ihr auf die denkbar unglücklichste Art und Weise seine Sucht nach brutalen Hardcore-Pornos beichtet. Vorerst entscheidet sich Helene gegen den „Perversen" und für ihren brutalen Ehemann, der aber eigentlich nicht böse ist, sondern nur ein erbärmliches Würstchen, nicht minder gestört als Gluck, nur eben anders. Das heißt: die Frau, die ausbricht, bleibt zunächst doch in ihrem Käfig.
Ein Film der sanften Zwischentöne
Die entscheidenden Gitterstäbe, die Helene zunächst an ihrem Ausbruch hindern, befinden sich aber in ihrem Kopf. Und am Ende ist auch Gluck mit seiner krankhaften Passion für Hardcore-Pornos keine Autorität mehr für die inzwischen gewachsene Frau: Er, bei dem sie zunächst verzweifelt nach Hilfe suchte, wird in gewissem Sinne ihr Patient. Die Geschichte von Helenes innerem Ausbruch erzählt Gedeck brillant mit Blicken und Mimik.
„Gleißendes Glück" ist ein Film der sanften Zwischentöne, der auch leicht hätte scheitern können. Gerade die Figur des Eduard Gluck – Hirnforscher und Pornosüchtiger – hätte allzu leicht in die Lächerlichkeit abrutschen können. Das verhindert Ulrich Tukur, der die bemerkenswert schwierige Rolle des Eduard Gluck perfekt umsetzt: er spielt Gluck etwas verpeilt, etwas ironisch, der Zuschauer spürt, bevor er genau weiß, dass Gluck irgendeine Unsicherheit ständig kaschieren muss.
Wahrscheinlich ist es genau diese Unsicherheit, die es überhaupt erst ermöglicht, dass Helenes Bewunderung in Verliebtheit, schließlich in Liebe kippt: „Verliebtheit ist ja auch immer nur eine Verheißung, Verliebtheit zeigt einen möglichen Weg auf", sagt Gedeck. Wohin dieser Weg im Falle von Helene und Eduard führt, erfährt der Kinobesucher ab dem 20. Oktober, dem offiziellen Kinostart von „Gleißendes Glück".
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