Mit einem Knacken breche ich den Keks in meiner Hand auf und fische ungelenk den schmalen Papierstreifen heraus. So hatte ich mir das jedenfalls ausgemalt, nachdem meine Mitbewohnerin letzten Monat dreizehn Kisten Glückskekse für Karneval bestellt hatte. Doch dann kam die Lieferung nicht rechtzeitig an, ich musste aus meiner Zwischenmiete raus, verlor zwischen altem und neuem Zimmer aus den Augen, mir einen der Kekse abzugreifen und dann waren sie alle weg, als Glückskamelle unter die Menschen gestreut.
Vielleicht sitze ich aus diesem Grund jetzt vor dem geöffneten Internetbrowser, habe deshalb eine halbe Stunde Glückskekssprüche recherchiert und bin überhaupt erst auf der dubiosen Seite Glückskeks23 gelandet, um mir meine wohlverdiente Portion Glückversprechen abzuholen. Auf dem Bildschirm erscheint ein verpixeltes Keksfoto, ich klicke darauf, der Keks dreht sich einmal um sich selbst, bricht lautlos auf und heraus schiebt sich ein weißer Zettel: „Gehen Sie doch mal spazieren, anstatt so viel zu surfen“. Ich muss lachen. Über die Ironie, dass der Rat von einem Netz-Cookie stammt und darüber, mir offensichtlich gerade so dringend Glück zu wünschen, dass ich mir online Pseudoweisheiten reinpfeife, muss ich auch lachen.
Ich switche das Tab, öffne eine andere Seite und klicke auf den Cookie, den mir Orakelkeks.de anbietet: „Wenn du was erleben möchtest, was du noch nie erlebt hast, musst du auch bereit sein, etwas zu tun, was du noch nie getan hast.“ Darunter steht geschrieben: „Gefällt Ihnen dieser Spruch nicht? Dann öffnen Sie doch gleich noch einen Keks“. So einfach geht das also mit dem Glück, überall greift man per Mausklick ein paar Happy-Hormone ab, hier ein bisschen Dopamin, dort ein wenig Serotonin, da ein paar Endorphine. Ich drücke die linke Maustaste erneut und klicke und zappe durch mein Glücksorakel, bleibe hängen an „Wo Herz, da auch Glück“ und ärgere mich, dass das Glück offensichtlich nicht mal in korrektem Satzbau zu mir zu finden scheint.
Noch bevor ich den nächsten Spruch lesen kann, ertönt ein kurzes Pling, dann ploppt rechts oben eine Nachricht auf, ein Text von dir. Und du fragst, ob ich denn noch vorbeikommen wolle, einfach redend den Abend ausklingen lassen, es gäbe auch Essen, Nudeln mit der leicht scharfen Soße, ob ich mich erinnere, die schmecke mir doch so gut und außerdem könne man sich ja auch mal wieder nah sein, sich gegenseitig halten, und, wenn einem danach wäre, vielleicht einen Film ansehen.
Während ich deine Worte lese, verblassen die virtuellen Glückskekse, verblassen die digitalen ach-so-schlauen Weisheiten, verblasst die Wäsche, die noch aufgehängt werden sollte, die Bewerbung, die noch rausgeschickt werden müsste, denn morgen ist die Deadline, verblasst das Bad, das seit zwei Wochen nicht mehr geputzt wurde, verblasst die Angst, auf ewig mit Sertralin mein Glück in Pillenform schlucken zu müssen und das Wissen, dass ich, bekäme ich eines Tages Kinder, sie wohl nicht vor allem Unglück dieser Welt beschützen könnte, das verblasst auch.
Was bleibt, bist du und dass du für mich gekocht hast. Was bleibt ist, dass du mich jedes Mal den Film aussuchen lässt und meinen Kopf kraulst, wenn der Abspann läuft. Was bleibt ist ein geöffnetes Browserwindow, auf dem ein aufgebrochener Glückskeks in den Raum plärrt: „Ein freundliches Lächeln von dir und der Tag wird schöner“. Säße ich noch vor dem Bildschirm, fände ich den Spruch unerträglich kitschig, doch ich war bereits weg, ich war bereits unterwegs zu dir und deiner leicht scharfen Pasta und wenn ich so darüber nachdächte, müsste ich mir eingestehen, dass der Glückskeks diesmal gar nicht mal so falsch läge.
GLÜCKSVERSPRECHEN - Aktiv im Thema
migrapolis.de | Das Haus der Vielfalt in Bonn „nutzt und fördert die Potenziale unserer postmigrantischen Gesellschaft“ insbesondere durch Fortbildungs- und Beratungsangebote sowie Forschung.
integreater.de | In dem in Berlin ansässigen Verein „engagieren sich junge Menschen mit Migrationsgeschichte, um mit ihren Biografien Schülerinnen und Schüler zu empowern“.
idaev.de | Das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. in Düsseldorf bietet unter anderem Bildungsangebote zum Umgang mit Rassismus und Diskriminierung an.
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