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Benjamin Jaksch
Foto: Fabian Vogel

„Lernen darf kein Selbstzweck sein“

28. März 2023

Lernexperte Benjamin Jaksch über lebenslanges Lernen und berufliche Weiterbildung – Teil 1: Interview

trailer: Herr Jaksch, was machen Sie als Lernbegleiter?

Benjamin Jaksch: Mitunter nenne ich mich mittlerweile ganz gern „Learning Catalyst“, also „Lernkatalysator“. Denn ich glaube, dass jeder von uns tagtäglich ohnehin lernt. Wir alle lernen in jedem wachen Moment etwas hinzu und das, was dieses Lernen letzten Endes nachhaltig macht, ist, wenn daraus eine tatsächliche Verhaltensänderung hervorgeht. Angenommen, aus unserem Gespräch geht für mich irgendetwas hervor, aufgrund dessen ich in Zukunft irgendetwas anders mache, dann habe ich in diesem Kontext etwas gelernt. Ich denke zwar, dass das automatisch geschieht, glaube aber auch, dass es Möglichkeiten und Wege gibt, Lernprozesse zielgerichteter und energieeffizienter zu gestalten. Darum habe ich mich mit „Lernkatalysator“ an diesen Begriff aus der Chemie angelehnt, denn ein Katalysator tut ja genau das – er ruft keine Reaktion hervor, die nicht ohnehin schon stattfindet, aber er verstärkt und steuert sie. Konkret heißt das für mich, dass ich in Organisationen tätig bin und dort dabei helfe, Lernprozesse zu gestalten, wann immer Menschen etwas zu lernen haben. Etwa Menschen, die in einem Unternehmen an einer Verkaufsfläche oder in der Logistik arbeiten, aber natürlich auch sehr viele Fach- und Führungskräfte.

Im Grunde bildet sich jeder zu einem gewissen Grad weiter“

Lebenslanges Lernen gilt als Ideal. Was bedeutet es genau?

Das kommt darauf an, wen man fragt. Manche Menschen bezeichnen lebenslanges Lernen als Möglichkeit, weil es von unserer Biologie her theoretisch lebenslang möglich ist. Bis vor ein paar Jahrzehnten hat man geglaubt, dass das Gehirn irgendwann fertig ausgebildet ist und dann nichts mehr damit passiert. Vor 20 oder 30 Jahren hat man dann aber das Konzept der Neuroplastizität entdeckt, sprich: Das Gehirn kann sich tatsächlich ein Leben lang verändern und anpassen. Das ist eine Möglichkeit, den Begriff lebenslanges Lernen zu verstehen. Ich habe es aber auch schon in einem ganz anderen Kontext gelesen, wenn etwa eine Münchner Universität Studiengänge für Seniorinnen und Senioren mit dem Begriff „Lebenslanges Lernen“ überschreibt. Für mich beschreibt der Begriff eigentlich, dass es ein Leben lang möglich ist, sich an ein einen bestimmten Kontext aktiv anzupassen.

Wie können sich Menschen weiterbilden?

Wie schon gesagt, im Grunde bildet sich jeder bereits zu einem gewissen Grad weiter, denn, wenn wir in irgendeinem Bereich feststellen, wir können etwas nicht, oder etwas funktioniert nicht – das ist uns meistens im privaten Kontext bewusster, als im beruflichen – dann werden wir einen Weg finden, dieses Problem für uns zu lösen. Ob ich einen Freund frage, wie man eine Spülmaschine auseinander baut, oder ob ich im Internet nachforsche, wie ich die Schaltung von meinem Mountainbike einstelle, oder ob ich mich ab anderen Stellen informiere, wie eine bestimmte Sache funktioniert – das macht jeder ohnehin und das ist bereits Lernen. Lernen heißt nicht, dass ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz explizit mit einem bestimmten Medium beschäftigen muss, oder mit einem Kurs, für den ich mich anmelden muss, lernen findet ohnehin statt. Das ist eine der wichtigsten Botschaften, die ich vertrete. Lernen ist also kein Ereignis, sondern immer ein Prozess, der kontinuierlich abläuft. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ich als erwachsene Person, die im Berufsleben tätig ist, nicht gleich nach Seminaren, Kursen oder anderen festen Angeboten schauen muss, sondern dass ich erst einmal schauen muss: Wo liegen meine echten Herausforderungen? Was sind die Dinge in meinem Alltag, meinem Berufsleben, bei denen ich das Gefühl habe, dass etwas nicht so funktioniert, wie ich mir das vorstelle?

Vielen Unternehmen wird gerade erst klar, wie komplex das Thema Lernen ist“

Wie kann man sich Lernen modellhaft vorstellen?

Es gibt viele verschiedene Wege, meine Herangehensweise ist der Lernkompass. Das ist ein Tool, das Orientierung bietet, um erst einmal zu klären: Wo im Lernprozess befinde ich mich? Dieser Prozess besteht im Endeffekt aus vier Schritten: Ausprobieren, informieren, implementieren und reflektieren. Diese Schritte gehören alle zum Lernprozess dazu, aber nur im Informieren-Schritt brauche ich externes Wissen – der Rest ist im Grunde eigenes Handeln. Und da sehe ich für Erwachsene im Berufsalltag die Herausforderung: Wo in meinem Leben gibt es die Baustellen, an denen ich arbeiten möchte, und welche Quellen brauche ich dafür? Brauche ich dafür ein Buch, muss ich mich mit bestimmten Menschen vernetzen, gibt es diese Menschen schon in meinem Netzwerk? In vielen Unternehmen wird gerade erst klar, wie komplex das Thema Lernen eigentlich ist. In den letzten Jahrzehnten wurde die Personalentwicklung mehr oder weniger als Kopie des Bildungssystems gestaltet – sprich, als sehr stark präsenzgesteuert, schulungsgesteuert. Jetzt gibt es den Begriff des New Learning, nach dem inzwischen in vielen Unternehmen gearbeitet wird, wo es darum geht, wie Lernvorgänge in den Alltag eingebettet werden können.

Lebenslanges Lernen wird in der Arbeitswelt mehr oder weniger deutlich eingefordert. Wie wirkt sich Lernzwang aus?

Das ist ein schwieriges Thema, weil da natürlich die Vorstellungen auseinander gehen – die Vorstellungen der Personalentwicklung und die der Mitarbeitenden. Wobei man immer beachten muss, und das spreche ich in den Personalentwicklungen auch immer an: Lernen darf kein Selbstzweck sein. Ich kann Mitarbeitende nicht motivieren, wenn nicht vollkommen klar ist, welchen Zweck eine Maßnahme, oder eine Kampagne verfolgt. Das wird vielfach übersehen. Leute in Personalentwicklungen würden sich nicht für diesen Job interessieren, wenn sie nicht selbst in irgendeiner Weise lernbegeistert wären. Das ist auch gut so, aber für den normalen Mitarbeitenden ist es auch vollkommen legitim, zur Arbeit zu kommen um für ein paar Stunden am Tag zu arbeiten und sich vielleicht gar nicht für andere Belange zu interessieren. Da müssen beide Seiten zusammenfinden und es muss an eine Relevanz geknüpft sein. In der Schule gelingt das überhaupt nicht – da taucht häufig die Frage auf, wofür brauche ich das überhaupt? Die Existenz dieser Frage zeigt schon, dass wir nicht da sind, wo es eigentlich hingehen müsste. In Unternehmen muss deswegen vollkommen klar sein, was der Zweck ist, wie es sich auf den tatsächlichen Arbeitsalltag auswirkt.

Die Unternehmen sind in der Pflicht, nicht die Mitarbeiter“

Kennen Sie Beispiele dafür, wie sich ein „Zwang zur Selbstoptimierung“ in der Arbeitswelt auswirkt?

Was mir dazu in den Sinn kommt, ist, dass man aus strategischer Sicht des Unternehmens ganz arg aufpassen muss: Was meine ich als Unternehmen eigentlich, wenn ich „Lernen“ sage? Denn ganz häufig ist es so, dass das, was gemessen wird, oder überhaupt messbar ist, ohnehin nur die Anwesenheit bei irgendwelchen Schulungsmaßnahmen ist. Es wird eben nicht der Lerneffekt in dem Sinne gemessen, ob bestimmte Prozesse auf eine bestimmte Art gemacht werden. Dann lässt es sich natürlich schon ein wenig als Zwang verkaufen und verpacken, denn das kann ich ganz einfach messen: Wie viele Seminare hast du besucht? Bei welchen Schulungen bist du gewesen? Das sind ganz einfache Ja/Nein-Kriterien. Ich glaube, dass da die Unternehmen in der Pflicht sind, nicht die Mitarbeiter. Wenn sie zeigen können, was der echte Effekt einer Fortbildungsmaßnahme sein wird, also inwiefern diese hilfreich sein wird, um auf den Geschäftserfolg einzuzahlen, dann wird es leichter, Mitarbeiter zu überzeugen, tatsächlich mal einen Vormittag, oder zwei Tage lang irgendwo an dieser Maßnahme teilzunehmen. Das ist aus meiner Sicht auf strategischer Ebene echt entscheidend: Wie wirkt es sich wirklich auf unseren unternehmerischen Alltag aus, was bedeutet es im Zielsystem des Lernenden selbst.

Welcher Anteil der Erwachsenen bildet sich aktiv weiter?

Ich kenne keine belastbaren Zahlen um das präzise zu beantworten, allerdings ein paar Anekdoten die auf etwas hindeuten. Ein Beispiel, das man immer wieder beobachten kann: Wenn in einem Unternehmen etwa ein Learning-Management-System eingeführt wurde – also eine Plattform auf der Inhalte liegen, die sich die Mitarbeitenden selbstständig ansehen können – tun sich diese Unternehmen meist schwer, mehr als fünf bis zehn Prozent der Belegschaft dazu zu motivieren, diese Inhalte regelmäßig konsumieren. Das ist so ein Daumenwert, wie viele Mitarbeitende den intrinsischen Sinn dahinter erkennen. In privaten Kontexten besteht kein Zweifel, dass Leute sich weiterbilden, wenn sie die Notwendigkeit selbst erkennen. Das haben wir alle im Zuge der Digitalisierung selbst erlebt – ein Zugticket oder einen Flug online buchen und das Ticket auf das Handy laden, dafür hat uns niemand den Kurs „Digitalisierungs-Einmaleins“ verschrieben. Das haben wir alle selbst hinbekommen. Das ist die Herausforderung für Unternehmen: Den Mitarbeitenden zuzutrauen, ihr Gehirn eben nicht beim Einstempeln abzugeben. Und da müssen beide Seiten zusammenkommen. Es ist mit der Home-Office-Thematik vergleichbar: Wie viel Vertrauen haben Unternehmen in ihre Mitarbeitenden, tatsächlich selbst zu entscheiden, ihre Arbeit zu machen? Das gleiche betrifft das Thema Lernen – wie viel Freiheit gebe ich ihnen dafür und wie viele Möglichkeiten geben ich ihnen zur Unterstützung.

Erlebnisse bieten, die klar machen, worum es geht“

Das Netzwerk Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung prägte 2007 den Satz, die „Verführung zum Lernen“ müsse den „Zwang zum Büffeln“ ersetzen. Wie lässt sich das erreichen?

Was bei diesem Zitat so ein bisschen mitschwingt, nämlich in dem Begriff „Verführung“, ist, dass es scheinbar immer eine externe Macht geben muss, die etwas vorgibt. Es gibt da ganz grandiose Erzählungen von Experimenten in Indien, von einem indischen Bildungswissenschaftler, der Kindern in den Slums einfach nur einen Laptop mit Zugang zum Internet gegeben hat. Drei Wochen später haben sie ihm dann etwas aus dem Bereich Biotechnologie erklärt, obwohl sie nie zuvor Computer in der Hand oder mit dem Thema zu tun hatten. Erwachsene können das genauso, wenn sie eine Aufgabe haben, an der nicht nur das Unternehmen, sondern sie selbst echtes Interesse haben. Wenn sie den Zugang zu den Möglichkeiten haben, dann werden sie sich die Dinge selbst beibringen und beibringen können. In Unternehmen besteht darin immer so ein bisschen der Konflikt, was muss ich den Leuten tatsächlich beibringen und welche Freiheit kann ich ihnen geben, selbst zu entscheiden – etwa, wenn es um das Thema Arbeitssicherheit geht. Das ist ein Thema, das niemand gerne schult, oder gerne lernt, aber auch hier gibt es Möglichkeiten – und da passt der Begriff ganz gut – zu verführen, denn: Wenn jemandem klar wird, wie es sich anfühlt, nur noch eine Hand zu haben, dann wird er beim Thema Arbeitssicherheit in Zukunft wahrscheinlich mehr Wert auf die eigene Sicherheit legen. Da gibt es Firmenschulungen, bei denen die Mitarbeitenden einen Tag lang alles wie sonst machen, nur dass sie die Hand in einem Stoffbeutel haben, um mal wirklich die Erfahrung zu machen, nur eine Hand ‚zu haben‘. Da ist Kreativität gefragt, um Menschen Erlebnisse zu bieten, die ihnen ganz einfach klar machen, worum es geht.


GLÜCKSVERSPRECHEN - Aktiv im Thema

migrapolis.de | Das Haus der Vielfalt in Bonn „nutzt und fördert die Potenziale unserer postmigrantischen Gesellschaft“ insbesondere durch Fortbildungs- und Beratungsangebote sowie Forschung.
integreater.de | In dem in Berlin ansässigen Verein „engagieren sich junge Menschen mit Migrationsgeschichte, um mit ihren Biografien Schülerinnen und Schüler zu empowern“.
idaev.de | Das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. in Düsseldorf bietet unter anderem Bildungsangebote zum Umgang mit Rassismus und Diskriminierung an.

Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de

Interview: Christopher Dröge

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