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Regisseurin Nezahat Gündogan (r.) erzählt die Geschichte von Emoş Gülver
Foto: Anna Lenkewitz

„Hay Way Zaman“ bricht Mauer des Schweigens

07. Mai 2014

Dokumentarfilm berührt Kinobesucher beim Türkischen Filmfest Ruhr im FilmForum Duisburg – Festival 05/14

Am 4. Mai 1937 erging in einer geheimen Sitzung des türkischen Kabinetts der Befehl, die gesamte Bevölkerung in dem aufständischen Gebiet Dersim (die heutige Provinz Tunceli) zusammenzutreiben und „diejenigen, die Waffen eingesetzt haben und einsetzen, vor Ort endgültig unschädlich zu machen, ihre Dörfer vollständig zu zerstören und ihre Familien fortzuschaffen“.

Gemeint waren die Zaza-sprechenden, alevitischen Kurden, die im heutigen Tunceli lebten. Der Dokumentationsfilm „Hay Way Zaman/O, Zeit“ handelt von dieser historischen, bis heute schwierigen Begebenheit der türkischen Geschichte. Damals war Kemal Atatürk der Präsident der neu geschaffenen Türkei, ein Nationalist, dessen Ziel nicht nur die Modernisierung des ehemaligen Osmanischen Reiches, sondern die Schaffung eines rein türkischen Nationalstaates war. Daraus resultierte eine strikte Assimilierung vermeintlicher Nicht-Türken. Eine Mission, die Atatürk mit seiner Nationalitätenpolitik verfolgte.

Das Duisburger FilmForum ist bis auf den letzten Platz besetzt. Sogar auf dem Boden haben es sich einige Besucher bequem gemacht – ein Zeichen für das große Interesse an dieser Thematik. wie die meisten von ihnen muss auch ich hin und wieder schlucken, mit den Tränen kämpfen, wenn Emoş Gülver aus ihrer Vergangenheit erzählt und sie die Erinnerungen plötzlich übermannen. Anders als ihre restliche Familie überlebte Emoş das von der türkischen Regierung angeordnete Massaker. Sie hatte sich hinter einem Busch versteckt, konnte mit dem schwer verletzten älteren Bruder von dem Ort fliehen, wohin sie die Soldaten verschleppt hatten. Detailliert berichtet sie von den aufgestellten Maschinegewehren, den Geräuschen, als die Soldaten zu schießen begannen – tak tak tak. Die Soldaten, so berichtet Emoş, schossen auf alles, was sich bewegte, eine Tatsache, die von Atatürks Ziehtochter, Sabiha Gökçen, der ersten weiblichen Kampfpilotin, untermauert wurde. Ein Filmausschnitt lässt Gökçen zu Wort kommen. Sie beschreibt, welch großartiges Gefühl sie erfasste, als sie ihren ersten Einsatz flog – der Einsatz, bei dem tausende Menschen aus Dersim zu Tode kamen. Sie schossen auch auf Ziegen, berichtet Gökçen, um den Rebellen die Nahrung zu nehmen.

Warum Emoş letztendlich überlebte, warum sie von einer türkischen Offiziersfamilie aufgenommen und später mit einem Bahnangestellten verheiratet wurde, wird in der anschließenden Diskussion mit Regisseurin Nezahat Gündogan klar: Zufall, so berichtet Gündogan, war dies keineswegs. Die Offiziere wurden dazu angehalten, die jungen Mädchen, die das Massaker überlebten, aufzunehmen, um sie zu türkisieren, denn „die Frau ist ein wichtiger Pfeiler der nationalen Assimilation. Die Aufnahme diente nicht der Menschlichkeit. Der Befehl dazu kam ‚von oben‘. Dies war die staatliche Assimilierungspolitik, die sogar in offiziellen Dokumenten belegt werden kann.“

Emoş, so zeigt die Dokumentation, weiß davon nichts. Sie nennt die Familie, die sie aufgenommen hat, ihre Eltern, versteht nicht, warum man ihr nicht hilft, als sie krank wird, warum sie einen armen Bahnangestellten heiraten muss – „sie schienen mich einfach loswerden zu wollen, zu verschachern“. Emoş erinnert sich genau, wie sie ihren ‚Vater Offizier‘ kennenlernte, beschreibt ihn und ihre ‚Mutter‘ als gütig. „Nicht einmal, als ich das Baby meiner ‚Mutter‘ fallen ließ, schlug sie mich. So gütig war sie“, erzählt Emoş lachend. Sie sei ein kleiner Teufel gewesen, total verlaust und dreckig, als sie auf den Offizier getroffen sei. Man habe sie gewaschen und ihr die Haare abgeschnitten. Auch neue Kleider bekam sie.

Nezahat Gündogan (r.) erzählt über die Produktion ihres Films, Foto: Anna Lenkewitz

Was für Emoş wie der Himmel auf Erden zu sein gewesen schien, war politisches Kalkül. Regisseurin Gündogan berichtet, dass das Haare schneiden und Umkleiden die allerersten Handlungen der neuen ‚Familie‘ gewesen seien, um den Mädchen ihre Vergangenheit zu nehmen und sie vergessen zu lassen, wer sie waren. Auf die Frage, warum nur die Mädchen in die türkischen Familien aufgenommen wurden, hat Gündogan eine plausible Antwort: „Die Väter in den Familien konnten sich vorstellen, die Herrschaft über ein Mädchen auszuüben. Sie waren leichter zu lenken. Einen Jungen, der später zum Mann wird und mit den leiblichen Töchtern zusammenlebt, - das konnten sich die Familien nicht vorstellen.“

Überraschend offen gestaltet sich die Diskussion, auch der Film überrascht, spricht er doch eine Thematik an, die in der heutigen türkischen Historiographie immer noch mit Vorsicht genossen wird. Ähnlich wie bei dem Massaker an den Armeniern gibt es Diskussionen, ob die Ereignisse in Dersim als ‚Völkermord‘ charakterisiert werden können. Erst 2011, so ist es im Internet nachzulesen, habe sich Präsident Erdogan offiziell entschuldigt. Für die Regisseurin von „Hay Way Zaman/O, Zeit“ ist dies nicht genug: „Das Massaker in Dersim ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Diese Botschaft soll weitergetragen werden, alle sollen das erkennen. Es gibt bereits viele Beispiele, in denen sich bekennende Kemalisten zu Wort melden und sich für die damaligen Taten entschuldigen. Der Film schlägt ein erstes Loch in eine Mauer des Schweigens, die Menschen spüren die Schande, weil sie bisher von den Ereignissen nichts wussten“.

Gerne hätte ich noch erfahren, ob es bei der Recherche zu dem Film zu Schwierigkeiten gekommen ist. Die Diskussion inklusive der Übersetzung dauert aber seine Zeit, so dass nicht alle Fragen beantwortet werden können. Die freie Zugänglichkeit zu Archivmaterialien zu diesem Thema ist ebenso überraschend wie die Offenheit, mit der ehemalige Soldaten über ihre Taten erzählen. Es zeigt sich leider immer wieder, dass derartige Ereignisse gerne totgeschwiegen werden. dies gilt aber nicht nur für die Türkei, denn auch die deutsche Historiographie kennt diese Art des Umgang mit der eigenen Geschichte.

Gündogan berichtet weiter, dass ein ähnlicher Film vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. 2006 habe sie „Die verlorenen Kinder von Dersim“ gedreht, ohne Kamerateam oder offizielle Genehmigung. Sie sei als Gast zu den Zeugen gekommen und habe irgendwann ihre Handkamera ausgepackt. Das Wort Dersim auch nur in den Mund zu nehmen, sei verpönt gewesen. Heute wäre es anders, eine Ablehnung seitens der Regierung, diesen Film zu drehen, wäre schwieriger geworden, da das Thema in der Öffentlichkeit diskutiert würde; und das türkische Kulturministerium sei als öffentliche Institution verpflichtet, solche Projekte zu unterstützen. Zensur bezüglich der Thematik würde es nicht geben, auch wenn Gündogan ein umfangreiches Dossier habe vorlegen und viele weitreichende Aspekte des Massakers außer Acht habe lassen müssen.

„Hay Way Zaman/O, Zeit“ ist Emoş Gülvers ganz persönliche Lebensgeschichte, die sie erst im Alter zu begreifen beginnt. Diesen Prozess beschreibt Gündogans Dokumentarfilm auf einfühlsame und sehr persönliche Art und Weise. Trotz der traurigen Thematik darf Emoş am Ende doch noch ein wenig Glück erfahren: Sie trifft nach unglaublich vielen Jahren ihren Cousin wieder, der das Massaker ebenfalls überlebt hat.

Anna Lenkewitz

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