Werl, 21.11.: Die Zuschauer stehen in kleinen Gruppen zusammen, unterhalten sich angeregt über das, was sie gerade gesehen haben. Es könnte der übliche Ausklang eines Kinoabends sein. Erst als ein JVA-Beamter die Gespräche unterbricht wird klar, dass es sich hier um keine übliche Filmvorführung handelt. „Wir müssen jetzt zum Ende kommen“, sagt er bestimmt und zückt demonstrativ seinen Schlüsselbund.
Das Projekt „Kultur@Gefängnis“ ist Teil der Dortmunder Plattform „Labsa“, bei der sich internationale KünstlerInnen treffen. Projektleiterin Betty Schiel organisiert neben Filmabenden auch Workshops und andere Kulturveranstaltungen in Gefängnissen der Region. Für den Abend in der JVA Werl, eine Kooperation mit dem Kinofest Lünen, hat sie vorab mit der Insassenvertretung die Dokumentation „Fighter“ von Susanne Binninger ausgewählt.
Drei der Protagonisten des Films, Andreas Kraniotakes, Khalid und Mohammed Taha, sind ebenfalls vor Ort. Ihnen, Mike Wiedemann als Vertreter der Kinofests und der Presse wird hier kein roter Teppich ausgerollt. Mobiltelefone müssen im Auto bleiben, alles andere kommt in Schließfächer, die Kamerataschen dürfen gerade noch mit herein. Metalldetektor, Abtasten, dann wird der Tross Meter für Meter durch die Gänge der JVA geleitet. Massive Türen werden aufgeschlossen und hinter uns wieder verriegelt. Es geht vorbei an Zellen, in drei Stockwerken übereinander angeordnet, wie man es aus amerikanischen Gefängnisfilmen kennt.
Der älteste Raum der 1908 in Betrieb genommenen Haftanstalt, die Kapelle, dient als provisorisches Kino und ist mit ihren kunstvollen Holzsteelen, Kirchenfenstern und Marienbildern an der Wand ein Kontrast zu Mauern und funktionaler Architektur. Erst nach und nach kommen die rund 120 Insassen in den Saal, die sich für die Veranstaltung angemeldet haben. Ein paar Gedanken und Vorurteile schleichen mir durch den Kopf. Ich bleibe an einigen Gesichtern hängen, schaue mich misstrauischer um als die JVA-Beamten, die am Rand stehen. Sicherer als hier dürfte es in diesem Moment nirgendwo sein, das ungute Gefühl bleibt trotzdem.
„Fighter“ begleitet Kämpfer der deutschen Mixed Martial Arts-Szene (MMA) durch ihren Alltag. Die Regisseurin hat die Protagonisten mehrere Monate begleitet, Vertrauen aufgebaut. Wenn Lom-Ali Eskijew vor dem Wiegetag schmerzlich auf Süßigkeiten verzichtet und hungernd hofft, die letzten Kilos zu verlieren, ist sie ebenso nah dran wie bei Training und Wettkämpfen, wie bei Siegen und Niederlagen.
Die Kämpfe inszeniert sie nicht wie eine Sportreportage: Keine schnellen Schnitte oder effekthaschende Musik. Der Klangteppich besteht aus dem babylonischen Sprachgewirr der Trainer, die Anweisungen durcheinander brüllen und aus dumpf klingenden Schlägen. MMA ist näher am Ringen als am Boxen. Statischer, aber nicht minder durch Kraft, Geschick und gute Nerven bedingt. Nur einmal geht jemand bewusstlos KO, die spektakulärste Szene ist ein blutiges Ohr. Im Fokus stehen ohnehin die Hoffnungen der Kämpfer, ihr fairer Umgang mit dem Gegner und die liebevollen Freundschaften untereinander.
Die JVA Werl ist das größte Gefängnis in NRW, mit mehr als 900 Plätzen für Strafgefangene und Männer in Sicherungsverwahrung. Wie reagieren sie auf den Film? Haben sie etwas anderes erwartet? Mehr Kampfszenen, mehr Action? Als der Film endet, wird begeistert geklatscht und gejohlt. Andreas und die Brüder Mohammed und Khalid sind erleichtert, beantworten Fragen aus dem Publikum. Die Wortmeldungen zeugen von guter Beobachtung, sind klug und pragmatisch gestellt: Warum wechselt Lom-Ali – der ebenso wie Regisseurin Susanne Binninger an diesem Abend verhindert ist – nicht einfach in die nächst höhere Gewichtsklasse? Wie viel Geld kriegen die Kämpfer für einen Sieg? Können sie davon leben? Und wie war es für sie, den Film in einem Gefängnis zu zeigen?
Khalid gibt zu, nervös gewesen zu sein, ob „Fighter“ hier ankommen würde. Er ergänzt vorsichtig: „Wir können im Gegensatz zu euch ja wieder gehen, das fühlt sich komisch an“. Viele Insassen lachen, denn sie wissen genau, wo sie sich befinden. Andreas berichtet von den inhaltlichen Kämpfen, die er selbst mit der Regisseurin ausgefochten habe, da er Klischees über die MMA-Szenen auf der Leinwand vermeiden wollte. „Die weibliche Perspektive hat dem Film aber insgesamt gut getan“, befindet er.
Eine weibliche Perspektive ohne Berührungsängste trägt auch Betty Schiel bei. Sie moderiert das Gespräch souverän und fragt die Kämpfer zum Beispiel: „Euer Umgang miteinander ist sehr zärtlich. Fast ein bisschen homoerotisch. Was meint ihr dazu?“. Wider Erwarten lachen alle, auch die Männer im Publikum. Andreas erklärt: „Wir trainieren hart, kämpfen barfuß, Mann gegen Mann. Da können wir uns auch in den Arm nehmen. Wer mir meine Männlichkeit absprechen will, soll das machen. Ich muss niemandem etwas beweisen“.
Erst als der JVA-Beamte darum bittet, zum Ende zu kommen, realisiere ich wieder, wo ich bin. Das Misstrauen ist verflogen, einige Insassen verabschieden sich von uns mit Handschlag und bedanken sich. Das letzte Kinoerlebnis dürfte für viele von ihnen lange zurückliegen. Der Abend hier ist für einige unter ihnen mehr als eine kleine Abwechslung vom Knastalltag. Die Erfahrung, einen Film gemeinsam zu sehen und mit anderen darüber zu sprechen, die macht etwas mit Dir, das gilt „draußen“ und „drinnen“.
Das Projekt „Kultur@Gefängnis“ zeigt Insassen, dass auch sie ein Teil der Gesellschaft bleiben. Mit Nachgiebigkeit hat das nichts zu tun. Die Idee entspricht den Grundüberzeugungen unseres Strafsystems, das auf Resozialisierung und Würde im Strafvollzug basiert. Denn auch wer schwere Verbrechen begangen hat und zu Recht dafür betraft wird, ist nie nur ein Verbrecher. Er ist immer auch ein Mensch. Und vielleicht sogar ein Cineast.
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