Jahrzehntelang war die deutsche Filmkritik auch von den Kirchen geprägt. Neben einem Blatt der evangelischen Kirche ist vor allem der katholische Filmdienst eine verlässliche Quelle der Filmbewertung gewesen – nach dem moralischen Aposteltum der Frühzeit. Diese Verlässlichkeit der Herausgabe ist wohl auch der Grund, dass das bekannteste deutschsprachige Filmlexikon aus den Kritiken des Blattes hervorging, schließlich bewertete es über Jahrzehnte wirklich jeden Film, der im Kino anlief. Wie sich die Zeiten aber geändert haben: Die Filmstarts im Kino sind längst nicht mehr alles, was besprochen werden will. Die seit längerem veröffentlichten Bewertungen von DVD- und Blu-ray-Ausgaben wirken auch schon wieder antiquiert, die zahllosen Onlineanbieter werden langsam selbst zu Filmproduzenten. Dieser zunehmenden Differenzierung kommt das aktuelle Jahrbuch „Filmjahr 2016“ – die jährliche Erweiterung des vielbändigen Lexikons – mit einem Schwerpunkt entgegen. Und der ist nicht mehr dem Film, sondern TV-Serien gewidmet.
Auch das Vorwort verkündet Neuerungen, die in der Medienbranche bereits in Umlauf waren: Der Filmdienst soll ab 2018 nur noch online erscheinen, „gemäß den Beschlüssen der Deutschen Bischofskonferenz“ – und das pünktlich zu seinem 70-jährigen Bestehen. Weil der Umfang des neuen Angebots noch unklar ist, scheint die Existenz des „Lexikon des internationalen Films“ gleich mit auf der Kippe zu stehen. Mit dem neuen Webangebot solle „eine deutlich größere Wirkung erreicht werden“, wie in der Pressemitteilung zu lesen ist. Ob das in Zeiten boomender YouTube-Kritiken und Filmwebseiten funktionieren kann, sei mal dahin gestellt.
Mit dem Filmjahrbuch 2016 kann man sich jetzt noch ein (letztes?) mal nostalgisch in ein Buch vertiefen, um das vergangene Kinojahr Revue passieren zu lassen. Das ermöglicht die von Herausgeber (und Filmdienst-Chefredakteur) Horst Peter Koll zusammengestellte „Chronik“. In einer Art „Best of“ der Zeitschrift wird Monat für Monat erinnert an herausragende Filme, die unvermeidlichen Geburts- und Todestage von Filmschaffenden bis hin zu politisch relevanten Ereignissen wie dem Putschversuch in der Türkei. Festivalberichte, technische Neuerungen und Ausstellungsrezensionen werden im Ausschnitt zitiert, dazu gibt es eine ganz kleine Reihe zu deutschen Filmemacherinnen.
Die Liste der 10 besten Filme des Jahres laut Filmdienst-Redaktion eröffnet dann wenig überraschend mit „Toni Erdmann“ auf dem ersten Platz. Blockbuster sucht man vergeblich, hier geht es um das Arthousekino. Das macht auch deutlich, wie die Kritiken des Lexikons einzuordnen sind: Auch kleine und kleinste Filme werden ausführlich besprochen, wenn die Qualität erkannt wird. Allzu dümmliche Blockbuster dagegen werden schon mal schroff verrissen. Leider werden nur die zehn „besten“ Filme im Buch durch die lange Kritik aus dem Heft repräsentiert. Die restlichen fast 2000 Besprechungen stellen, wie gewohnt aus dem Lexikon, eine Kurzfassung dar, die aber in jedem Fall eine deutliche Bewertung des Films enthält – eine Besonderheit, die das Jahrbuch auch früher schon von den meisten anderen Filmjahrbüchern hervorgehoben hat, die übrigens alle nicht mehr existieren.
Längere Texte bietet sonst nur noch der erwähnte TV-Serien-Schwerpunkt. Einer Einführung zum Boom der Serien (dessen Höhepunkt ja schon wieder vorbei zu sein scheint) von Felicitas Kleiner folgen Texte zu Filmklassikern, die zu Serien gemacht werden, zu Jugendserien und einem „Mad Men“-Bildband. All das wurde im Filmdienst genauso veröffentlicht. Die meisten Texte stammen aus dem vergangenen Jahr, einige sind allerdings schon über drei Jahre alt. Wenn die Mittel nicht für eigene Texte ausreichen ist das ja legitim, solange die Qualität stimmt. Man hätte aber doch wenigstens die veralteten Textstellen einmal aktualisieren können. So macht das den Eindruck einer eher lieblosen Zweitverwertung. Der Abonnent des Filmdienst braucht sich also um dieses Buch nicht zu bemühen. Für den Liebhaber der Filmkritik oder für fleißige Kinogänger des vergangenen Jahres gibt es in diesem Band dagegen einiges zum Schmökern und zum Nachschlagen.
Lexikon des internationalen Films 2016 | Red.: Horst Peter Koll | Schüren Verlag | 544 S. | 24,90 €
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