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Max Czollek im Bahnhof Langendreer
Foto: Benjamin Trilling

Vielfalt statt "Integrationstheater"

12. März 2019

Max Czollek liest „Desintegriert euch!“ in Bochum – Literatur 03/19

Nein, es kam nicht in den Einkaufswagen, sobald auf den Produktverpackungen im Supermarkt die deutsche Nationalfahne abgedruckt war. So pflegten sie es damals in der jüdischstämmigen Familie von Max Czollek, als er in Berlin aufwuchs. Das war in den 90er Jahren. Doch dann kam die Fußballweltmeisterschaft 2006 im eigenen Land. Und plötzlich schminkten sich die BürgerInnen schwarz-rot-goldene Streifen auf die Wange oder fieberten als „Schland“-Flaggen wedelndes Rudel vor riesigen Leinwänden mit ihrer Mannschaft mit.

Dieses „Sommermärchen“ geriet zur nationalen Ekstase. Als wäre nie etwas gewesen. Für Max Czollek drückte diese Gebaren ein Begehren nach Normalität aus, wie er es in einem Kapitel formuliert, aus dem er an diesem Abend im Bahnhof Langendreer vorliest. Die Kapitelüberschrift lautet daher: „Normalität Reloaded. Schland“. Denn von der „WM unter Freunden“ bis zum Bundestagseinzug der AfD zeichnet Czollek eine Kontinuität: der bierselige Fußballpatriotimus lieferte die Symbolik; die „war-doch-alles-nur-ein-Vogelschiss“-Fraktion der AfD grub die ideologischen Konzepte wieder aus.

Aber der Bogen, den Czollek in seiner vielbeachteten Streitschrift „Desintegriert euch!“ spannt, geht viel weiter. Gleich zu Beginn zitiert er Richard von Weizsäckers berühmte Bundestagsrede vom 8. Mai 1985, die den Punkt markierte, an dem auch die BRD offiziell die Befreiung vom Faschismus als „Tag der Befreiung“ ansah. Der damalige Bundespräsident fügte hinzu: „ein Tag der Erinnerung“. Genau das bezeichnet Czollek in seinem Buch als „Gedächtnistheater“, das von einer besonderen Verpflichtung gegenüber Juden und Jüdinnen spricht – und sie damit zugleich in eine bestimmte Ecke rückt.

Das ist der Ausgangspunkt eines Buchs „von einem, der auszog, kein Jude zu werden. Sondern ein Politikwissenschaftler, ein Schriftsteller und Intellektueller. Und von einem, der schließlich auch Jude wurde“. So stellt sich Czollek gleich in der Einleitung vor, um seine Kritik aus jüdischer Perspektive zu formulieren. Aus dieser Warte beleuchtet er das Gedächtnistheater, in dem der Diskurs der Erinnerung zugleich einer der Erläuterung ist: „Als reine und gute Opfer helfen Juden und Jüdinnen nun dabei, das Bild von den guten, geläuterten, normalen Deutschen zu stabilisieren.“

Dieses stabilisierte Bild finde sich wiederum in einem anderen Diskurs, dem „Integrationstheater“. Inszeniert werde eine einheitliche, (geläuterte) deutsche Leitkultur und diese sehe sich zwei Gruppen von Nebenrollen gegenüber: den MigrantInnen, die sich integrieren, und die, die sich dem verweigern. Bestätigt sieht Czollek dieses Integrationstheater im Fall von Fußballstar Mesut Özil. „Du kriegst einen Integrationsbambi, wenn du Tore schießt, aber sonst hast du ein Problem“, sagt der 32-jährige Publizist und Lyriker über den Ex-Nationalspieler. „Aus jüdischer Perspektive kann ich das absolut nachvollziehen.“

Diesem Paradigma hält er eine „Gesellschaft der radikalen Vielfalt“ entgegen. Sein Imperativ der Desintegration richte sich daher gegen einen Nationalismus, der hinter Begriffen wie „deutsche Leitkultur“, „Heimatministerium“ oder „jüdisch-christliches Abendland“ stecke. „Diese Gesellschaft erhebt seit der Wiedervereinigung zunehmend einen Anspruch auf Normalisierung“, so Czollek. Denn diese Läuterung von der NS-Vergangenheit verlief Parallel zu einem schleichenden Rechtsruck: Robert Walsers Rede über die Holocaust-Aufarbeitung, die Pogrom-Stimmung Anfang der 90er, die faktische Abschaffung des Asylrechts, bis hin zum NSU-Terror und den milden Urteilen. Das sind einige der Punkte, die Czollek erwähnt. Falls es je eine Normalität gegeben habe, dann sei sie aktuell einer Belastungsprobe ausgesetzt. Und diese hat konkrete Namen wie AfD, Identitäre Bewegung oder eben Integration.

Benjamin Trilling

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