1962, während der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage (später Oberhausener Kurzfilmtage): Die Gruppe „DOC 59“ erklärt im Oberhausener Manifest „Papas Kino“ für tot und bereitet so den Weg für den „Jungen deutschen Film“, der die Kunst zum Mittelpunkt des Filmschaffens erhebt und mit Konventionen bricht. Die Dokumentation über den Gründer der Westdeutschen Kurzfilmtage Hilmar Hoffmann „Ich möchte lieber nicht“ der Regisseurin Anna Hepp geriert sich in bestem Oberhausener Ideal derart unkonventionell, dass die diesjährige Jury des blicke-Festivals die „neue, bisher so nicht gesehene Variante“ des Dokumentarfilm-Genres mit dem Dokumentarfilmpreis auszeichnet. Das Portrait zeichne sich dadurch aus, so die Jury, dass es sich der klassischen Konstellation des Frage-Antwort-Spiels über Leben und Erlebnisse des deutschen Kulturschaffenden verweigere und dennoch unglaublich zur Person Hilmar Hoffmann durchdringe.
Klassischen Konstellationen und Sichtweisen verweigerte sich auch das gesamte blicke-Festival vom 21.-24.11.2013 in einem 32 Filmbeiträge und viele Diskussionsrunden umfassenden Programm. In diesem Jahr stellte das Filmfestival des Ruhrgebiets verstärkt unter Beweis, dass es gemäß seines Namens natürlich die Filmemacher des Ruhrgebiets in den Fokus stellt, aber dabei niemals in einem regionalen Mikrokosmos verharrt. Dieser Prämisse Taten folgen lassend geht der Fiktionsfilmpreis Ruhr dieses Jahr auch an den Film „Ren Zao Kong Jian“ von Yu Shen Su, in dem der Regisseur die verheerenden Auswirkungen rasanter Urbanisierung in China anhand zweier Städte, gegen die das Urteil „Städteschrumpfen“ im Ruhrgebiet wie blanker Hohn wirkt, in beinahe dystopischer Weise aufzeigt. So düster, seelenlos und doch alles bestimmend sich die Stadt bei Yu Shen Su gibt, so heiter, absurd-wahnwitzig gibt sich das Bochumer Bermudadreieck in Sven Stephanis Experimentalfilm „Ewiges Licht“, der sich mit erstgenanntem Film den Preis für Fiktion teilt. Die Jury lobte den „vermutlich kürzesten auch noch spirituell unterfütterten Science-Fiction-Film der Welt“, in dem aus Lidl-Laternen ein „hingehauchtes Filmgedicht“ entsteht, für seine Blickwinkelverschiebung auf die banale Welt.
Innerhalb des Ruhrgebiets lag der Schwerpunkt in diesem Jahr auf Dortmund und dem Bild, das vom Ruhrgebiet vermittelt wird. Im Werkstattgespräch am letzten Festivaltag war der Motivsucher Rolf Viehrig zu Gast, der für Ruhrgebietsfilme die passenden Locations findet. Wie passend sie wirklich sind, darüber diskutierten nach dem Dortmunder Tatort „Alter Ego“ die Zuschauer im Endstation.Kino. Zu plakativ, zu wenig Seele, zu sehr der Ruhrpottromantik verhangen, befanden sie die Aneinanderreihung von „U“, dem Westfalenstadion und Taubenzüchter. Pragmatisch, für ein größeres Publikum ausgelegt, entgegnet Viehrig. Was als Lokalkolorit für eine deutschlandweite Fernsehausstrahlung genügt, genügt nicht dem Ruhrgebiet in der filmischen Momentaufnahme seiner Identitäten. Und so geht der Doppelpreisträger des letztjährigen Festivals Irfan Akcadag dagegen mit „Kiosk“ dem Herzen Dortmunds etwas derber auf die Spur. Auf fünf Quadratmetern zeigt sich die Multikulturalität der ehemaligen Hansestadt zwischen Migration, Integration, Alkohol, Armut und doch Heimat. Die brutale Direktheit ist es wert, mit dem Querdenkerpreis, gestiftet von trailer-ruhr, ausgezeichnet zu werden. Der Medienkunst Filmpreis Ruhr ging an Southstation-Sunville von Horst Herz, der mitten in der Dortmunder Innenstadt entführt in eine kaum beachtete Ruine eines alten Bahnhofs und Bilder extrahiert, würde man ihnen „in Museen und Ausstellungsräumen begegnen, sich niemand ernsthaft wundern würde.“ Weitere Preise gingen an „Weltklasse Kreisklasse“ von Daniel Kuhn und „Cruz Verde“ von Sandra Birkner.
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