Yaara Tal hat für ihre musikalische Auseinandersetzung mit dem Jahr 1923 unterschiedlichste Werke zusammengestellt, Kompositionen der Zwölftonmusik, der Spätromantik, mit chassidischen Einflüssen oder solche, die sich einer Zuordnung entziehen. Ein Gespräch über den musikalisch-künstlerischen Umgang mit einem Krisenjahr.
trailer: Frau Tal, vor 100 Jahren wurde das vom Ersten Weltkrieg ausgezehrte Deutschland schwer erschüttert: Besetzung des Ruhrgebiets, Hyperinflation, Hitlers Putschversuch in München. Sie haben sich dieses Jahr als Thema Ihrer neuen Solo-CD gewählt. Warum?
Yaara Tal: Angeregt hat mich der Essener Musikwissenschaftler Tobias Bleek. Er hat im Bärenreiter-Verlag ein Buch mit dem Titel „Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme“ veröffentlicht. Ich recherchierte also, was in diesem Jahr an Musik komponiert oder uraufgeführt wurde. Ich fand eine Menge diverser Stücke und war von der Reichhaltigkeit der Musik verzaubert. So konnte ich aus einer großen Fülle auswählen. Ich habe dafür sogar ein anderes CD-Projekt zurückgestellt.
Wie viele dieser Entdeckungen sind dann auf der CD gelandet?
Das sind höchstens zehn Prozent! Aber im Zuge meiner Recherche habe ich alle gefundenen Werke gesichtet, gelesen und zum Teil gespielt. Dabei hat sich eine Auswahl herauskristallisiert. Da ich keine Wissenschaftlerin, sondern Pianistin bin, sind das Werke, mit denen ich mich wohl fühle. Die Stücke, die ich ja über eine längere Zeit hin erarbeite, sollen meine „Freunde“ sein.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Stücke ausgewählt?
Ich wollte auf der CD vielen Werken und Komponisten eine Heimat bieten. Das bedeutet, dass ich keine langen Stücke – wie etwa die bedeutende Fünfte Klaviersonate von Sergej Prokofjew – auf der Platte haben wollte. Manche Werke waren sich untereinander auch zu ähnlich und wurden deshalb nicht ausgewählt. Insgesamt sind es 70 Minuten Musik, aber ich hätte problemlos drei Mal so viel einspielen können.
„Werke, mit denen ich mich wohl fühle“
Es überrascht, wie unterschiedlich die Werke sind. Arnold Schönberg, Hanns Eisler oder Frederico Mompou: Jeder hat seine ureigene Musiksprache.
Der zweite der drei Musikblöcke ist der Zweiten Wiener Schule gewidmet. Das ist die Geburtsstätte verschiedener Zwölftonsysteme. Wir denken immer nur an Schönberg, aber der war nicht der Einzige, der die zwölf Töne in eine neue Relation gebracht hat.
Wer noch?
Zum Beispiel Joseph Matthias Hauer, von dem ich die Klavierstücke op. 25 spiele. Er hat anders als Schönberg die zwölf Töne in zwei Gruppen geteilt und untereinander vermengt. Das klingt tonal, aber es gibt kein tonales Zentrum wie etwa bei Robert Schumann. Hauer schreibt auch kein Tempo, keine Artikulation, keine Dynamik vor,nur Noten und relative rhythmische Werte. Ich nutzte als Richtschnur der Interpretation den Sprachgestus der Gedichtzeilen von Hölderlin, die er jedem Stück vorangestellt hat. Schönbergs Walzer aus seinem op. 23 hingegen ist eigentlich ein unspielbares Konzeptstück, das beinahe über jeder Note eine Anweisung trägt. Auch wenn es wunderbar klingt: Nicht einmal Maurizio Pollini oder Glenn Gould haben es geschafft, die Noten umzusetzen – und vielleicht haben sie es nicht einmal beabsichtigt. Hanns Eisler setzt in seiner Klaviersonate op. 6 die Lehre seines Meisters Schönberg fort, verstößtaber bewusst und offenkundig gegen seine Gesetze. In Form und Material einzigartig, ist die Sonate das dynamisch extremste Stück auf der CD. Sie klingt futuristisch, fast weltzerstörerisch und ein bisschen wie Theatermusik.
„Schönbergs Walzer aus seinem op. 23 ist eigentlich ein unspielbares Konzeptstück“
Was ist mit den Spätromantikern, die mit den Versuchen der Zwölftöner nichts zu tun hatten oder haben wollten?
Ich habe drei Stücke von Frederick Delius aufgenommen, die wie eine Verlängerung der Musik von Claude Debussy klingen. Sie setzen das ausgehende 19. Jahrhundert fort. Delius klingt nicht immer so, aber in diesen Kompositionen sehnt er sich vielleicht in bessere Zeiten zurück und sucht eine Heimat.
Sie haben auch zwei Stücke des in Litauen geborenen und 1943 in Hollywood gestorbenen Geigers und Komponisten Joseph Achron ins Programm aufgenommen.
Achron verarbeitet das Melos der chassidischen Musik, die im Osten Europas tonangebend war. Die Stücke erinnern mich an metaphorische Bilder von Marc Chagall. Sie stehen vielleicht für eine Traumwelt, in die man sich flüchtet. Dazu war die Wiener Zwölftonsprache nicht geeignet.
„Vielleicht eine Traumwelt, in die man sich flüchtet“
Was ist für Sie das modernste Werk auf der CD?
Da würde ich, was die Geisteshaltung betrifft, Ernest Blochs „Nirvana“ nennen. Darin manifestiert sich eine Richtungslosigkeit, die in starkem Gegensatz zum Gestaltungswillen der Wiener Schule steht. Blochs Musik kommt von nirgendwo her und geht irgendwo hin. Ein hinreißendes Ausnahmestück! Begeistert bin ich auch von den Miniaturen von Leoš Janáček. Sie waren nicht zur Veröffentlichung gedacht, dabei ist jeder Takt ein Juwel. Janáček hat sich an keinem Vorbild orientiert, er schöpft frei aus der eigenen Seelenwelt.
1923 war ein düsteres Jahr. Wie verhält sich die Musik dazu?
Musik entsteht nicht im Elfenbeinturm, sondern wird von Menschen geschaffen, die in ihrer Zeit leben. In Deutschland war die Situation wohl am schlimmsten, eventuell auch deswegen sind hier in Relation wenige Klavierwerke entstanden, viele dagegen im Europa drumherum. In Wien und Paris waren die Möglichkeiten eben besser als in Berlin oder München. Man spürt aber den Hunger nach geistiger Nahrung: In dieser Zeit wurde etwa die Krolloper in Berlin gebaut, und in den ersten Rundfunksendungen vor 100 Jahren übertrug man klassische Musik. Ich möchte mit meiner CD Facetten und Wendepunkte darstellen aus einer Zeit, in der die „goldenen“ Zwanziger noch weit entfernt waren. Eine Platte zum Jahr 1926 wäre sicherlich ganz anders ausgefallen.
Yaara Tal: 1923 | Sony Classical | Koproduktion mit BR Klassik
Transparenzhinweis: Der Interviewer Werner Häußner und der Autor des erwähnten Buches über das Jahr 1923, Tobias Bleek, arbeiten als Pressesprecher bzw. als Leiter des Education-Programms für das Klavier-Festival Ruhr. Das Interview hat vor dem am 7. Oktober begonnenen Angriff der Hamas auf Israel stattgefunden.
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