Im September begann der von den etablierten Parteien mit Staunen begleitete Siegeszug der Piraten. Nachdem sie mit 8,9% in den Berliner Landtag einzogen, bewiesen sie auch in populationsärmeren Bundesländern wie dem Saarland und Schleswig-Holstein, dass es sich hier nicht um ein Großstadt-Phänomen handelt. So gesehen dürfte Joachim Paul, Spitzenkandidat der Piraten-Partei NRW, recht zuversichtlich vor der Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland sein. trailer traf ihn zu einem Gespräch über Visionen, Außenpolitik und römischen Müßiggang.
trailer: Herr Paul, haben Piraten Visionen einer besseren Gesellschaft?
Joachim Paul: Wenn man diese Frage mit Ja beantwortet, gerät man schnell in den Verdacht, Heilslehren zu verkaufen, deshalb bin ich da vorsichtig. Aber wir haben schon Ideen von einer Zukunft, und ja, wir wollen die Gesellschaft ein kleines bisschen besser machen.
Helmut Schmidt hat einmal gesagt, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Waren Sie schon da?
Dem setze ich mit Kurt Weidemann, einem Karlsruher Design-Professor, entgegen: „Ein Designer ohne Vision ist kein Realist.“ Und Politiker sind Designer unseres Zusammenlebens.
Von den Visionen zur konkreten Politik: Welche Anträge werden Sie als erste im Landtag stellen oder befürworten, wenn Sie gewählt werden?
Einer unserer möglichen ersten Anträge wäre der auf Offenlegung der Arvato-AG als Betreiber des ServiceCenters der Landesregierung. Hier werden Anfragen der Bürger nicht etwa von Mitarbeitern der Staatskanzlei, sondern von einer Tochter der Bertelsmanngruppe beantwortet. Eine solche Verflechtung halten wir aus vielerlei Gründen für problematisch und wollen wissen, wie der Vertrag mit der Arvato genau aussieht. Wie wird der Datenschutz garantiert? Werden hoheitliche Aufgaben an private Anbieter abgetreten? Wir haben viele Fragen.
Wie stehen die Piraten zu den Forderungen der Aufklärung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit?
Es gibt bei vielen Piraten ein großes Bekenntnis zum Humanismus. Freiheit bedeutet aber auch Verantwortung, für sich selbst und seine Umgebung, das steht für keinen Piraten zur Disposition. Um diese Freiheit wahrzunehmen, ist Beteiligung am politischen Prozess notwendig. Wenn man sich anschaut, was weltweit im Bereich kostenloser Software alles produziert worden ist, ohne Chef, ohne Firmenstruktur, und was technisch wirklich funktioniert, wie etwa Open Office oder der Firefox-Browser, dann kann man ja berechtigterweise fragen: Wenn es gelingt, komplizierte technische Probleme mit vielen zu lösen, warum soll es dann nicht gelingen, eine Demokratie der Vielen zu versuchen?
Welche Ideen haben die Piraten zur Außenpolitik?
Die Piraten haben auf Bundesebene eine Arbeitsgruppe zum Thema Außenpolitik. Dort wird unter anderem an Kriterien für Militäreinsätze gearbeitet, die sehr scharf sein werden.
Im Programm der Piraten ist Bildung ein zentraler Begriff.
Weil Freiheit in Verantwortung nur mit gebildeten Personen möglich ist. Wir Piraten sprechen von einem Bildungssystem, nicht von einem Ausbildungssystem. Beleg dafür ist zum Beispiel unsere Forderung nach Erwachsenenbildung auch da, wo es wirtschaftlich eigentlich nicht mehr nötig ist, also für Leute, die nicht mehr im Erwerbsprozess stehen. Der Bezug zum Humboldtschen Bildungsideal steht im Grundsatzprogramm der Piraten. Eine gute Grundbildung ist für eine Demokratie immer von Vorteil. Dazu gehört auch, dass Menschen in der Lage sind, einen gewissen Dissens auszuhalten, denn Demokratie besteht nicht nur aus Konsens, sondern auch aus sehr vielen Dissensen.
Dissens ruft die Forderung der Piraten nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen hervor. Fordern Sie hiermit das Recht auf Faulheit statt des Rechts auf Arbeit?
Wir fordern das Recht auf eine sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe für alle. Darüber hinaus fordern wir in der Tat auch das Recht auf Muße, die bei den Römern „schola“ hieß, da kommt unser Wort für Schule her. Auch Muße hat also mit der Chance auf Bildung zu tun.
Müßiggang ermöglicht auch die Beschäftigung mit Religion. Die Gretchenfrage: Wie halten die Piraten es damit?
Das ist kurz gesagt: Wir sind für Religionsfreiheit, aber sobald Menschenrechte und insbesondere die Rechte der Frauen davon betroffen sind, gibt es bei uns eine klare Grenze und keine Zugeständnisse. Auch die Freiheit der Karikatur ist zu schützen. Es sollte keine humorfreien Zonen auf der Welt geben. Und wer Respektlosigkeit gegenüber Frauen praktiziert, sollte sich nicht über Respektlosigkeiten im Humor beklagen.
Nachhaltigkeit ist ein zentraler Begriff für die Piraten. Welchen konkreten Anträgen werden Sie hier im Landtag zustimmen?
Ein wichtiger Aspekt ist die Dezentralisierung der Strom- und Wärmeerzeugung sowie eine auf diese Dezentralisierung eingestellte Netzstruktur. Ziel ist es, eine Vielfalt lokaler Energieerzeuger aufzubauen und den Einfluss bestehender Oligopole zu verringern. Den Schutz von Artenvielfalt fordern wir ebenso wie ein Verbandsklagerecht. Das ist ein mühsam erkämpftes Bürgerrecht, das nicht durch juristische Wortklauberei ausgehöhlt werden darf.
Was werden Sie für Familien und Kinder tun?
Der Ausbau der Möglichkeiten frühkindlicher Bildung gehört zu den Selbstverständlichkeiten, weil Bildung, über Effizienz und wirtschaftliche Zwecke hinausgehend, die Voraussetzung für mündige Bürger ist. Je gebildeter, umso kompetenter können Bürger zu bestimmten Themen Position beziehen. Die Entlastung der LehrerInnen durch Verwaltungsfachkräfte ist für uns ein denkbarer Antrag, ebenso die effiziente Steigerung der flächendeckenden Grundversorgung mit digitalen Medien ab der fünften Klasse. Hier sind die derzeitigen Pilotprojekte der Landesregierung übrigens gar nicht weit von unseren Forderungen.
Haben Sie einen konkreten Ratschlag an die politisch Handelnden?
In der Politik wird meiner Erfahrung nach einfach zu wenig gelesen. Vor zwei Jahren war ich Gegner des Bedingungslosen Grundeinkommens, bis mich ein Buch von Andre Gorz überzeugte. Man muss nur ab und zu mal ein gutes Buch lesen, dann kommt man auf andere Gedanken. Wir haben eine Krise der Eliten in Deutschland.
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