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Gelebte Postdemokratie? Maikrawalle in Berlin
Foto: Mira Moriz

„Man wird ja nicht Politiker, weil einem sonst langweilig wäre“

09. September 2013

Robert Zion über den Zustand der Demokratie – Thema 09/13 Welche Wahl

trailer: Herr Zion, macht es überhaupt Sinn, zu wählen?
Robert Zion: Natürlich. Zur Wahl gehen macht immer Sinn. Wer nicht wählt, wählt den Status Quo.

Demoskopisch betrachtet bleibt aber doch sowieso alles beim Alten.
Die Demoskopie hat sich schon öfters geirrt. Die Wähler sind inzwischen schwerer zu berechnen. Ich denke, dass nach der Bundestagswahl eine andere Regierung durchaus möglich ist. Nötig wäre eine andere Regierung allemal.

Hat das Parlament überhaupt noch eine wichtige Funktion in Zeiten der „Postdemokratie“?
Natürlich kann ein Parlament Politik gestalten. Mit entsprechender Mehrheit wären Mindestlöhne und ein anderes Steuersystem durchsetzbar. Die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit entscheidet das Parlament. Der Begriff „Postdemokratie“ problematisiert den Zustand, dass Parteienpolitik manche Themen nicht mehr bearbeitet. Das hinterlässt den Eindruck, dass Politik nur Verwaltung des ohnehin Bestehenden sei.

Robert Zion
Foto: Privat
Robert Zion (47) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fraktion der Grünen im Landtag von NRW und kommt aus Gelsenkirchen.

Gibt es da Beispiele?
Ich sehe drei große Themenkomplexe, die das bestehende Parteienspektrum umschifft. Zum einen wird zu wenig über den Wandel der Arbeitswelt diskutiert. Die Politik traut sich nicht, sich von der alten Arbeitsgesellschaft und der Forderung nach Vollbeschäftigung zu verabschieden und über ein bedingungsloses Grundeinkommen zu diskutieren. Hier gibt es in Parteien nur vereinzelte Stimmen, auch die Linkspartei vertritt hier mehrheitlich konservative Positionen. Zum zweiten gelingt es uns beim Thema Globalisierung und Migration nicht, aus dem alten nationalstaatlichen und kulturchauvinistischen Denken herauszukommen. Wir schotten uns vor Migrationsströmen ab und führen stattdessen eine absurde Demografiedebatte. Zum dritten geht es nach wie vor um den ökologischen Umbau unserer Gesellschaft. Wir stören massiv die globalen Ökosysteme. Hier müssten wir komplett umsteuern und auf die Naturverträglichkeit aller Produktionsabläufe bestehen.

Das ist doch eine Forderung Ihrer Partei?
Die Grünen sind da schon sehr auf das unmittelbar Machbare fixiert. Wir müssen aber wieder zu weitergehenden gesellschaftlichen Zielvorstellungen, meinetwegen auch Utopien kommen.

Oft ist in Regierungskreisen das Wort „alternativlos“ im Gebrauch.
Hier geht es um die These des Philosophen Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“. Dieser neokonservative Duktus besagt, dass die gesellschaftliche Entwicklung quasi vollendet sei und es nur noch darum gehe, das Bestehende zu verwalten. Ökonomische Krisen werden dann mit Notoperationen behandelt, zum Beispiel mit Rettungsschirmen, statt die Probleme wirklich anzugehen. Politisches Handeln kann man nur dann als alternativlos ansehen, wenn man meint, die historische Entwicklung sei zu Ende.

Viele Entscheidungen werden inzwischen in multinationalen Gremien getroffen. Hat eine Bundesregierung überhaupt noch Entscheidungskompetenzen?
Das muss man differenziert sehen. Innerhalb der Euro-Krise hatte Deutschland sehr viele Entscheidungsmöglichkeiten. Wir haben unsere Entscheidungen sogar anderen aufoktroyiert. Natürlich gibt es internationale Machtzentren und nicht immer entscheiden die gewählten Parlamente. Aber gerade die Bundesregierung ist so ohnmächtig nicht.

Macht es unter all den genannten Umständen eigentlich Spaß, Politiker zu sein?
Ja sicher. Man wird ja nicht Politiker, weil einem sonst langweilig wäre. Man möchte etwas gestalten. Manchmal ist das Leben eines Politikers auch ernüchternd, wenn es um interne Machtkämpfe geht. Das ist aber nichts Neues und das gibt es überall dort, wo Menschen zusammentreffen und versuchen, sich zu organisieren. Das haben Sie in Unternehmen genauso wie in Parteien und Parlamenten. Überall finden diese psychologischen Prozesse statt.

Was können wir mündige Bürger sonst noch machen außer zur Wahl zu gehen?
Sie können sich einmischen. Der weltweite digitale Informationsaustausch birgt sicher Gefahren für die Bürgerrechte. Aber er hat auch Vorteile. Inzwischen ist durch das Internet der Informationsfluss zwischen Regierung und Bevölkerung nicht mehr einseitig sondern reziprok. Regierende können nicht mehr so einfach große Lügen verbreiten, ohne dass diese aufgedeckt werden. Diese Entwicklung ist für die Demokratie ein riesiger Fortschritt. Der Staat ist ja kein Selbstzweck sondern Organisationsform aller Bürger.

Interview: Lutz Debus

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