21 Kilometer legt die Straßenbahn 105 in Essen zurück. Die „Naturlinie“, so ein Beiname zur Bewerbung Essens zur „grünen Hauptstadt Europas“, passiert nicht nur die vielen grünen Ecken wie die Frintroper Höhen oder den Schlosspark Borbeck. Für die Fahrgäste geht es einmal quer durch die Ruhrmetropole, vom Süden, durch Rüttenscheid, schließlich bis in den Stadtteil Frintrop. Dort, an der Grenze zu Oberhausen, stoppt die Linie mit der markanten, gelben Farbe vor einem blauen Prellblock. Gelb und blau – das sind die Farben des Essener Stadtwappens. Die „Naturlinie“ ist damit auch seit Jahrzehnten ein Symbol für die Mobilitätssituation im Ruhrgebiet.
Denn natürlich pendeln die über fünf Millionen Einwohner in dieser Region tagtäglich zwischen den Städten, auch zwischen Essen und Oberhausen. Seit 1974, dem Jahr als die 105 in Frintrop endete, wurden viele Anläufe unternommen, beide Kommunen wieder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbinden. Bisher vergeblich. Hoffnungen ruhen auch in diesem Fall auf dem Ruhrparlament, das am 13. September erstmals direkt gewählt wird. 4,1 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, ihre Stimme abzugeben.
Deutschlands größte Ballungsregion soll vereint agieren
Vertreten werden die 53 Kommunen vom Regionalverband Ruhr (RVR), der im Mai 2020 sein hundertjähriges Bestehen feierte. Bisher entsendeten alle Kommunen ihre Repräsentanten in die Verbandssammlung, auch als Ruhrparlament bekannt. Das „Wohl der Metropole Ruhr“ lautet der Auftrag des RVR. Zu den Aufgaben gehören Dienstleistungen wie die zahlreichen Freizeitangebote oder Grünflächen in der Region, darunter etwa die Revierparks Wischlingen (Dortmund) oder Nienhausen (Gelsenkirchen). Der RVR versteht sich jedoch auch als Impulsgeber für eine städteübergreifende Vernetzung. Die Vision: Deutschlands größte Ballungsregion soll endlich vereint agieren.
Spätestens als das Ende von Kohle und Stahl zwischen Hamm und Duisburg besiegelt war, wurde ein solcher Dachverband notwendig. Zu den Mitgliedern des RVR gehören die Kreise Ennepe-Ruhr, Recklinghausen, Unna und Wesel sowie die Städte Bochum, Bottrop, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen. Diesen Flickenteppich versucht der RVR zu einem zukunftsfähigen Wirtschaftsstandort zu verknüpfen.
Experten kritisieren schon seit Jahren eine Kirchturmpolitik, mit der die Kommunen für sich agieren. Das Prinzip der unternehmerischen Stadt lockt dabei Investoren für umstrittene Prestigeprojekte wie das Anneliese Brost Musikforum in Bochum oder den Dortmunder Hafenumbau an. Die Sanierung der Infrastruktur oder die oft beschworene Verkehrswende blieben dabei zuletzt immer wieder auf der Strecke. Eine gemeinsame Regionalplanung könnte solche Projekte demnächst vorantreiben.
Werden die Ober- zu Unterbürgermeistern?
Doch wie viele Befugnisse genießt das Ruhrparlament? Wer regiert zukünftig die Ruhr-Metropole? Werden die dort gefällten Beschlüsse gar die bisherigen Ober- zu bloßen Unterbürgermeistern degradieren? So viel steht fest: Der RVR übernimmt mit dem Organ die Regionalplanung sowie Entwicklung, die sonst den Regierungsbezirken obliegt. Im Ruhrgebiet sind gleich drei NRW-Regierungsbezirke mit Sitz in Arnsberg, Münster und Düsseldorf verantwortlich. Entsprechend hoch ist der Ruf nach einer einheitlichen Koordinierung sowie gemeinsamen Interessenvertretung der Region, die im Herzen des Ruhrgebiets liegt. Viermal im Jahr soll das Ruhrparlament zusammentreten, um diese Entscheidungen zu fällen. 91 Politiker sollen nach der Wahl dort sitzen. Bisher waren es 136 Mitglieder, die von den Kommunen entsendet wurden.
Verkehrswende?
Mit ihren bisherigen Projekten haben sie bisher zum Teil die Weichen für das Ruhrgebiet der Zukunft gestellt. Das untermauerte die Vorstellung eines Mobilitätskonzepts für die gesamte Region, mit dem der Verband mit Sitz in Essen eine städteübergreifende Verkehrsplanung initiieren will. Dafür hat der RVR den Kommunen bereits 20 Projektvorschläge zu zentralen Mobilitätsthemen unterbreitet. Unter den Vorschlägen ist die Entwicklung eines ÖPNV-Netzes, das über die Stadtgrenzen der 53 Kommunen hinaus gehen soll. Denn im Vergleich zu Metropolen wie Hamburg oder Berlin erscheint die Taktung und Anbindung des ÖPNV im Ruhrgebiet nach wie vor katastrophal.
Ein Großteil nutzt im Ruhrgebiet daher noch immer den eigenen Pkw. Die Folge: verstopfte Verkehrsknoten, vor allem zu den Stoßzeiten. Das führt wiederum zu dauerhaft erhöhtem Ausstoß von Stickoxiden, die etwa in Essen deutlich über den von der EU vorgeschriebenen Grenzwerten liegt. Die Deutsche Umwelthilfe verklagte im letzten Jahr die Kommune. Und die versprach, bis 2035 einen Radverkehrsanteil von 25 Prozent zu erreichen. Aktuell liegt dieser Anteil bei 7 Prozent. Das liegt auch daran, dass 2019 im gesamten Bundesland NRW rund 1,3556 Milliarden Euro in den Bau von Autobahnen oder Bundesstraßen gepumpt wurden.
Für die Umsetzung von Radschnellwegen fehlte dagegen in NRW und dem Ruhrgebiet nicht nur das Geld, sondern vor allem der politische Wille. Der RVR stellte bereits im Kulturhauptstadtjahr 2010 den visionären Plan eines Radschnellwegs Ruhr vor, kurz: RS1. Der Traum: eine Fahrradautobahn, die durch das ganze Ruhrgebiet verläuft. Jeden Tag könnten damit mehr als 50.000 Wege und mehr als 400.000 Personenkilometer aufs Rad verlagert werden und zumindest teilweise die A40 als bisherige Verkehrsader der Region ablösen. Als Initiator und erster Projektträger hat der Verband 2015 zumindest eine Teilstrecke fertiggestellt. Radfahrer können seitdem zwischen Mülheim und Essen düsen. Doch in der Ruhrmetropole, zwischen dem Universitätsviertel und dem Viehofer Platz endet die Fahrradspur – im Nichts.
Ausgebremst wird das Pilotprojekt ausgerechnet von Essens Stadtdirektor Hans-Jürgen Best. Denn der Sozialdemokrat priorisiert am Viehofer Platz andere Pläne. Hier, zwischen Stadtkern und Uni, soll auch weiterhin eine Aufwertung des Viertels vorangetrieben werden. Bereits 2010 wurde hier ein Quartier mit schicken Wohnungen gebaut. Wenn es nach Best geht, soll bis nächsten Jahres ein weiteres 25.000-Quadratmeter-Areal folgen. Mehr schicke und kostspielige Apartments sollen hier entstehen. Noch fehlen für diese Pläne jedoch alle Investoren. Fest steht daher nur: Die für dieses Jahr anvisierte Fertigstellung des RS1 verzögert sich um weitere Jahre. Hinzu kommt, dass die Stadt Essen stur auf Bahnanschlüsse verweist, die der geplanten Radstrecke im Weg stehe.
Hohe Armutsquote an der Ruhr
Doch nicht nur in der Verkehrs- und Umweltpolitik stoßen die vom RVR vorangetriebenen Projekte auf kommunalpolitischen Widerstand. Denn das bisherige Konkurrenzprinzip zwischen den Städten hat zwar munter Investoren angelockt. Zur Schattenseite dieser wirtschaftsnahen Agenda gehörte jedoch auch eine erschreckende Armutsquote von über 21 Prozent im Ruhrgebiet. So kritisiert auch der Caritas-Verband der Katholischen Kirche, dass jedes dritte Kind in der Region unter Armut aufwächst. Chancen- und Bildungsgerechtigkeit gehören daher auch in diesem Sommer zu den Wahlkampfthemen. Und das beginnt bereits bei der Betreuung der Kleinsten, wofür die Kommunen noch bis zur Corona-Pandemie Gebühren von den Eltern verlangten. Ein Ruhrparlament mit einer progressiven Mehrheit könnte zumindest Druck ausüben, um eine Erziehung und Bildung zu ermöglichen, die unabhängig vom Geldbeutel ist.
Überhaupt kündigt sich mit der gleichzeitigen Kommunal- und Ruhrparlamentswahl eine deutliche Machtverschiebung an. Denn das Ruhrgebiet galt über Jahrzehnte als Hochburg der Sozialdemokratie. In sieben der elf Großstädte besitzen die Oberbürgermeister ein SPD-Parteibuch. Doch diese Vorherrschaft scheint beendet zu sein: Bei den Europawahlen im Mai 2019 lagen die Sozialdemokraten nur noch gleichauf mit der CDU (beide mit circa 23 Prozent). Dicht gefolgt wurden die ehemaligen „Volksparteien“ von den Grünen, die bei 21 Prozent lagen. Zumindest diese Zahlen und die erste Direktwahl eines Ruhrparlaments deuten an, wie einschneidend der diesjährige Urnengang sein könnte.
Weitere Informationen zur Wahl des Ruhrparlaments: www.rvr.ruhr/politik-regionalverband/direktwahl-2020
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