Bochum, 19. August – Der Vorplatz der Jahrhunderthalle ist nun Festivalzentrum der Ruhrtriennale. Im „Refektorium“, einer Art Kunst- und Diskussions-Scheune mit Barbetrieb lädt die Triennale – neben vielen anderen Veranstaltungen – ab jetzt mittwochs zum Filmabend ein. Dramaturg Vasco Boenisch begrüßte die ZuschauerInnen in diesem sympathischen und lockeren Ambiente zum Auftakt der Dokumentarfilmreihe mit dem Film „Müdigkeits-Gesellschaft – Byung-Chul Han in Seoul/Berlin“. Die Thesen des angesagten Philosophen Byung-Chul Han wurden hier noch einmal vertieft, nachdem er als Redner der Festival-Eröffnung dem Premieren-Publikum bereits mit Verve seine Kapitalismuskritik darlegte. Regisseurin Isabella Gresser hat den no-budget-Film gemeinsam mit Byung-Chul Han entwickelt und erläuterte im Publikumsgespräch ihre Arbeit.
Grasser begleitet den kaum in der Öffentlichkeit auftretenden Philosophen an persönliche Orte in Berlin, wo er an der Universität der Künste lehrt, und in seine Heimatstadt Seoul; sie wirft mit ihm die Frage auf, wie wir heute leben wollen. „Wenn man in Seoul in die U-Bahn steigt, merkt man sofort, dass man in einer Müdigkeits-Gesellschaft ist, einer Müdigkeits-Gesellschaft im Endstadium“, formuliert er seine ersten Eindrücke in Korea. Hunderte von Menschen sterben jährlich an Erschöpfung, eine neue psychische Krankheit mit dem Namen „Informationsmüdigkeit“ ist weit verbreitet, die Suizidzahlen weltspitze. Wer scheitert und dem hohen Leistungstempo nicht mehr standhält, beschuldigt sich selbst ohne zu erkennen, dass dahinter ein strukturelles Prinzip steht, das uns alle aushöhlt. Teil davon ist das obsessive Verhältnis zum Smartphone: Allzeit freie Kommunikation, in der wir uns freiwillig permanent selbst entblößen. Die Leistungsgesellschaft skizziert er pointiert und anschaulich als Gesellschaft der freiwilligen Selbstausbeutung mit unzähligen Zwängen und erklärt sie rundum für gescheitert. Der exzessiv beschleunigte Kreislauf der Kommunikation führt nach Byung-Chul Han zu einem beschleunigten Kreislauf von Kapital, und perfiderweise wird die Selbstausbeutung im Neoliberalismus auch noch als Freiheit verkauft. All das mache die Menschen krank: Die Folge der gnadenlosen Optimierung zu immer mehr Effizienz ist Burnout als Volkskrankheit in allen westlichen Gesellschaften.
Es lag nahe, das Filmgespräch mit der Frage nach der eigenen Selbstausbeutung zu beginnen. In diesem Filmprojekt ohne Budget, das sich über mehrere Jahre hinzog, hat Isabella Gresser sämtliche Gewerke in Personalunion übernommen: Kamera, Buch, Animationen, Schnitt und Postproduktion. Tappt man da nicht in die Falle, vor der ihr Protagonist so eindringlich warnt? „Man kann sich nicht komplett aus der Gesellschaft raushalten“, konstatiert Gresser, auch wenn man als freiberufliche Künstlerin prädestiniert zur Selbstausbeutung sei. Doch Kunst zu machen sei für sie nicht nur Arbeit, sondern auch die Freiheit zu machen, was sie will. Byung-Chul Han sei ein absolutes Arbeitstier, dennoch ist Schreiben für ihn gleichsam ein Genuss. „Ohne eine gewisse Intensität kommt am Ende nichts zu Stande“, findet Grasser.
Kennengelernt hatten die beiden sich schon vor einigen Jahren über ihr gemeinsames Interesse zur Philosophie der Leere. Was zunächst als zehnminütiger Kurzfilm angedacht war, wurde spielerisch in der künstlerisch-philosophischen Auseinandersetzung zum abendfüllenden Film-Essay, das Lust macht tiefer in Byung-Chul Hans Schriften einzutauchen.
Noch bis zum 23. September stehen im Festivalzentrum mittwochs Dokumentarfilme zum Ruhrgebiet auf dem Programm und zur Diskussion.
www.ruhrtriennale.de/de/good-bad-and-ugly-41
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