Das Modell Europa, das für Gemeinschaft stehen und nach dem Zweiten Weltkrieg einen endgültigen Schlussstrich unter blutige militärische Auseinandersetzungen ziehen sollte, wird zunehmend in Frage gestellt. Eine unsichtbare und stetig stärker werdende Grenze trennt reiche von armen Nationen. Die Staaten im Süden Europas, an deren Küsten immer wieder erschöpfte Flüchtlinge stranden, fühlen sich alleingelassen mit der Aufnahme und der Betreuung der vielen Flüchtlinge. Diesen Ländern will das Theater an der Ruhr helfen, sich Gehör zu verschaffen – und schaut dabei über den politischen Tellerrand hinaus. Vier Theatergruppen aus Italien, Griechenland und Spanien finden im Rahmen des Festivals „Theaterlandschaft Südeuropa“ vom 25. Bis 30. April in Mülheim ein Bühne für ihre aktuellen, politisch brisanten Produktionen. Wie nehmen die Regisseure, Autoren und Schauspieler selbst ihre Situation wahr, und wie gehen sie mit ihr um?
Blindspot Theatre Group ist ein junges griechisches Kollektiv, das sich seit seiner Gründung 2009 mit künstlerischen Experimenten und politischen Botschaften innerhalb kurzer Zeit in der griechischen Theaterszene etabliert hat. Stelios Lykouresis‘ „X-Tokio“ beschreibt eine Verhörssituation, die gar keine ist – ein vertrautes Szenario, das zunehmend kryptischer und fremdartiger wird. Dabei wird deutlich: Hierbei handelt es sich um die Metapher für ein Land in der Krise. Auch die spanische Autorin Carla Guimaraes und die Regisseurin María Folguera machen mit der Erzählung eines Einzelschicksals auf die Situation vieler Menschen aufmerksam. „La increíble historia de la chica que llegó la última” (Die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das Letzte wurde) erinnert an die somalische Leichtathletin Samia Yusuf Omar, die für ihre Heimat bei den Olympischen Spielen 2008 antrat. Da sie in Somalia von Islamisten, die sportliche Betätigung bei Frauen ablehnen, bedroht wurde, beschloss sie 2011, nach Europa zu fliehen und an den Olympischen Spielen in London teilzunehmen. Doch 2012 ertrank sie bei einer Rettungsaktion vor der Küste. Ihr Schicksal steht für viele junge Afrikaner, die ihren Lebensbedingungen zu entkommen versuchen.
Die Regisseurin Emma Dante wurde zuweilen als „Wunder der Theaterszene“ bezeichnet und ist ein bekanntes Gesicht im europäischen Theater. Ihr Stück „Die Schwestern Macaluso“ begleitet sieben Schwestern, die sowohl fremden als auch ihren eigenen Beerdigungen beiwohnen und sich dabei mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. „Die Schwestern Macaluso“ ist geprägt von Dantes Leben in Sizilien, wo sie sich mit Korruption, Mafia-Machenschaften und Armut konfrontiert sah. Dante beschäftigt sich in ihrer Produktion mit der Grenze zwischen Leben und Tod, Jetzt und Nie und Ist und War. Auch Theaterleiter und Regisseur Marco Martinelli ist aus der italienischen Theaterszene nicht mehr wegzudenken. „Wassergeräusch“ beschreibt das Leben eines Offiziers auf einer fiktiven Insel, an der Tag für Tag Flüchtlinge stranden. Dabei beschreibt er die Arbeit des Offiziers, der scheinbar kaltherzig und unbeeindruckt Tote zählt und Schicksale auflistet.
Das Rahmenprogramm des Festivals beinhaltet zudem die Vorträge der drei Autoren Wolfgang Bauer, Miriam Faßbender und Navid Kermani zur Flüchtlingsthematik, die zu Diskussionsrunden einladen.
Theaterlandschaft Südeuropa 2015 | Sa 25. – Do 30.4. | Theater an der Ruhr
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Das Trotzen eines Unglücks
Die neue Spielzeit der Stadttheater im Ruhrgebiet – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
„Theater wieder als Ort einzigartiger Ereignisse etablieren“
Dramaturg Sven Schlötcke übertiefgreifendeVeränderungen am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/23
Ibsen im syrischen Knast
„Up there“ am Theater an der Ruhr – Prolog 11/22
Auf diesem geschundenen Planeten
„Weiße Nächte / Retour Natur“ des Theater an der Ruhr – Prolog 08/22
Vom Universum geblendet
„Vom Licht“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 04/22
Gegen den Mangel an Erkenntnis
„Vom Licht“ in Mülheim – Prolog 03/22
Nebel, Schaum und falsche Bärte
„Nathan.Death“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 11/21
Wenn die Natur zum Ausnahmezustand wird
Vladimir Sorokins „Violetter Schnee“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Bühne 08/21
Beuys inklusive Torte, Kerze und Whisky
Theater, Kunst und Musik gegen Kohle: die Weißen Nächte im Theater an der Ruhr – Festival 08/21
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
Das gab es noch nie
Urbanatix im Dezember wieder in Essen – Bühne 10/24
Die Zwänge der Familie
„Antigone“ in Duisburg – Prolog 09/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24