Einen nüchternen Blick auf das Ruhrgebiet zu werfen, ist nicht leicht. Besonders nicht als Bewohner dieser Region. Das schon zum Sozialkitsch verkommene Bild des Kohlenpotts, das stolze Beharren auf die proletarische, ehrliche Seele des Ruhrgebiets, nun mit markigen Sprüchen wie „Woanders ist auch scheiße“ zur Marke stilisiert, das wochenendliche Fiebern bei der schönsten Nebensache der Welt mit Currywurst und Bier, Subkulturen mit „Tradition“ wie Punk und Thrash-Metal. Dann aber auch die zu Horten der Kunst und Kultur gewandelten Industriebauten, Versuche von Kreativwirtschaft, das Entstehen ambitionierter Off-Kultur-Inseln, Wissenschafts- und Industrieparks. Darüber das seit Jahrzehnten schlagende Schwert des Strukturwandels, Heils- oder Schreckensbringer, je nach Perspektive. Es wurde und wird viel geredet über die Probleme und Chancen des Ruhrgebiets, es wurden und werden viele Versuche unternommen, eine Trademark namens Ruhrgebiet zu entwickeln. Doch um die Identität einer Region zu erfassen, sind viele subjektive Blicke zuträglicher.
Das blicke-Filmfestival des Ruhrgebiets wirft seit über 20 Jahren Facetten des Ruhrgebiets in Form von filmischen Beiträgen auf die Leinwand. Ganz subjektiv. Im August stellte blicke sein Potenzial als Beobachter von Momenten und Wandlungen der Region unter Beweis und zeigte in der Reihe „Interventionen – Stadt für alle“ mit dem Endstation Open.Air aus seinem reichhaltigen Archiv kritische Filmbeiträge über das Ruhrgebiet. Doch blicke auf die Rolle des Archivars und Ausstellers von Filmen über die eigene kleine Welt Ruhrgebiet zu beschränken, wäre zu kurz gegriffen. blicke stellt die Filmemacher der Region, seien sie hier geboren, hinzugezogen oder auch weggezogen, und ihre Form der filmischen Ästhetik im Experimentellen, Narrativen, Kurzen oder Langen in den Vordergrund. Die verschiedenen Blickwinkel der Filmemacher sind nicht nur nach innen gerichtet, sondern überschreiten auch Grenzen. Die 21. Ausgabe des Festivals ist so international ausgerichtet wie nie zuvor. Während der vier Festivaltage laufen im Endstation.Kino Bochum in zehn Blöcken 32 Filme, die thematisch von China über den Iran bis ins Ruhrgebiet, von religiösen Traditionen über musikalische Neuerungen bis zu durchschnittlichen Tupperpartys reichen.
Am Eröffnungstag zeigt der Regisseur Yu Shen Su in seiner Dokumentation die verheerenden Auswirkungen rasanter Urbanisierung in China anhand zweier Städte, die das Urteil Städteschrumpfen wahrlich verdient haben. Am selben Abend nimmt blicke die Dortmunder Nordstadt unter die Lupe. In Volker Kriegers Musikclip „Nordstadtballade“ beschwört Greta Mulhouse auf charmante Weise französisches Lebensgefühl zwischen Borsigplatz und Hafen. Doppelpreisträger des letztjährigen Festivals Irfan Akcadag dagegen geht mit „Kiosk“ dem Herzen Dortmunds etwas derber auf die Spur. Abendfüllend beschäftigt sich der Dortmund-„Tatort“ „Alter Ego“ am Abschlusstag mit der ehemaligen Hansestadt. Zugleich wird der „Tatort“ in einem Werkstattgespräch mit Regisseur Thomas Jauch selbst analysiert. Zwischen China und Dortmund lässt das diesjährige blicke-Festival viel Raum für Experimente, Abseitiges, Unbekanntes und Diskussionen. Und geben die Blicke nach innen wie außen nicht auch Aufschluss über die Identität des Betrachtenden?
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