Was ist das denn eigentlich für ein Ding, das der Träger (unter anderem) des Leipziger Buchmessenpreises und – ganz frisch – des Heinrich-Böll-Preises Ilija Trojanow da geschrieben hat? Ist „Nach der Flucht“ ein Poesieband, eine Skizzensammlung, eine aphoristische Reflexion? Nach erster In-Augenschein-Nahme kann man nur eins sicher sagen: Das Buch ist vom Verlag S. Fischer nicht mit einer Genre-Bezeichnung ausgestattet worden – und ist damit dem Menschen mit Fluchterfahrung ähnlich.
Für den unklaren Stand in dieser Welt bedarf es für den geflüchteten Menschen laut Ilija Trojanow nämlich nicht mal eines unsicheres Aufenthaltsstatus. „Nichts an der Flucht ist flüchtig. Sie stülpt sich über das Leben und gibt es nicht wieder frei“, schreibt er in seinem, nun ja, Buch. Der 52-Jährige muss es wissen: Er ist selbst 1971 mit seiner Familie über Jugoslawien und Italien nach Deutschland geflohen, wo sie politisches Asyl erhielten.
Im Laufe eines Hirn anregenden Abends im Literaturhaus Dortmund, der das schwere Thema Flucht leicht und voller Humor verpackte, erfuhr das große Publikum stetig einen Happen mehr über das aktuelle Buchprojekt des Autors von „Der Weltensammler“. Das Literaturbüro Ruhr, in dessen Reihe „Über Leben!“ Lesung und Gespräch stattfanden, hatte Trojanow den Germanisten Dr. Hannes Krauss zur Seite gesetzt, der sie ihm entlockte. Dass nur wenige der im Buch versammelten Ereignisse autobiographischer Natur sind, war so ein Happen.
Ein Tagebuch ist das Ding also auch nicht. Und so weiß der Leser nicht, ob es der kleine Ilija war, den die Grundschullehrerin samt Mutter am ersten Schultag an der Klassentür abwies: „Ich habe schon vier Türken in der Klasse!“ Oder ob Trojanow selbst ein unanständiges Gefühl dabei empfindet, Menschen zu unterbrechen, die ein Loblied auf sein Heimatland anstimmen, wenn sie von seiner Herkunft erfahren: „Aus diesem Land bin ich geflohen!“ Was sich aus den kurzen Textpassagen ergibt, ist vielmehr ein universelles Bild der Lebenslage eines Menschen mit Fluchterfahrung, das aus individuellen Erfahrungen zusammengesetzt ist. Im ersten Teil aus „Verstörungen“, im zweiten aus „Errettungen“.
Ilija Trojanow lebt heute in Wien und der schwarz-bittere Humor der Österreicher steht ihm gut zu Gesicht, wenn er im Literaturhaus Anekdoten erzählt, die nicht in seinem Buch stehen: Die Liebe zur Literatur bescherte ihm 1986 etwa das „kürzeste Einbürgerungsverfahren in der deutschen Geschichte“. Der Beamte scannte kurz seinen Fragebogen, entdeckte das „Hobby“ Literatur und fragte: „Sagen Sie mir bitte etwas über den Autor Lenz.“ Trojanow antwortete: „Welchen meinem Sie denn: Siegfried? Hermann? Jakob Michael Reinhold?“ Da war der Stempel schon gemacht.
Ein Kern von Ilija Trojanows Buchprojekt schälte sich am Abend heraus: „Identität ist nicht so klar zu benennen. Es sollte ein Menschenrecht auf Unschärfe geben.“ Der Autor ist das beste Beispiel dafür: In Österreich gilt er vielen als Pseudo-Piefke (was das Schimpfwort für Deutsche ist) oder alternativ Krypto-Tschusch (Schimpfwort für den Balkan-Bewohner). Und weil sie nicht seine Muttersprache ist, liebt und verehrt er das Deutsche mehr als mancher Mitbürger. Freundinnen wie Juli Zeh oder Carolin Emcke erhielten für ihr politisches Engagement viele vulgäre Hass-Mails, erzählte er – einmal mehr mit schwarzem Humor: „Alle sind von absoluten Massakrierern der deutschen Sprache verfasst. Eine Minimalanforderung an selbst ernannte Patrioten sollte doch die richtige Rechtschreibung sein.“
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
All You Need Is Love
Lesung von Aglaia Szyszkowitz und Christian Maintz in der Stadtbücherei Gladbeck am 1.12. – Literatur 11/17
Krisen-Korrespondent
Lesung von Hasnain Kazim im Katakomen-Theater Essen am 8.11. – Literatur 11/17
Kein Recht auf Pessimismus
Harald Welzer bei der LiteraturBüro Ruhr-Reihe „Über Leben“ am 26.10. im Ringlokschuppen
Mutige Mehrheit
„Über Leben!“-Lesung von Harald Welzer im Ringlokschuppen Ruhr am 26.10. – Literatur 10/17
Das Leben lieben
Lesung von Jean-Philippe Blondel am 25.10. im Deutsch-Französischen Kulturzentrum Essen – Literatur 10/17
Personifizierter Bosporus
Lesung von Orhan Pamuk am 19.10. in der Lichtburg Essen – Literatur 10/17
Abenteuer Leben
Reiseschriftsteller Andreas Altmann am 13.10. in der Stadtbibliothek Essen – Literatur 10/17
Entwurzelter Weltbürger
Ilija Trojanow am 11.10. zur „Über Leben!“-Lesung im Literaturhaus Dortmund – Literatur 07/16
Lebenshelfer
Philosoph Wilhelm Schmidt im Rahmen von „Über Leben!“-Reihe im Literaturhaus Ruhr in Herne – Literatur 09/17
Schönes in der Hoffnungslosigkeit
Clemens Meyer las aus „Die stillen Trabanten“ am 22.9. im Lokal Harmonie in Duisburg – Literatur 09/17
Ausleuchter der Außenseiter
Clemens Meyer liest in der Harmonie Duisburg – Literatur 09/17
Glück ohne Gott
Lesung von Philipp Möller im Bahnhof Langendreer – Literatur 09/17
Vorlesestunde mit Onkel Max
Max Goldt in den Kammerspielen Bochum – Literatur 01/25
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Das Über-Du
Auftakt von Literaturdistrikt mit Dietmar Dath und Wolfgang M. Schmitt – 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24