Was hat der Alterungsprozess von Punks im Pott mit der Turbo-Urbanisierung Chinas zu tun? Eine ganze Menge, wie die Jubiläumsausgabe des blicke-Festivals in Bochum vom 15. bis 18.11. zeigte. Seit 25 Jahren steht es für familiäre, unprätentiöse Filmerlebnisse und weist mit seinem Programm doch weit über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus. Passend dazu wurde das Jubiläum ohne Killefit gefeiert, das Spektakuläre fand in den Filmen statt. Die JurorInnen Hatice Ayten, Luise Brinkmann und Christian Schön splitteten angesichts der Auswahl die drei Hauptpreise.
Mit einem ersten Preis wurden Yu-Shen Sus „Green Island“ und „Einwurf zwanzig Pfennig“ von Johannes Klais und Florian Pawliczek ausgezeichnet. Su dokumentiert, wie in China Wohnblocks und Straßenzüge aus dem Boden gestampft werden und sich kleine Dörfer zu Megacitys wandeln. Statt auf eine pulsierende Großstadt blickt die Kamera auf eine Verstädterung, aus der das Menschliche verschwunden ist. „Einwurf zwanzig Pfennig“ ist ein melancholischer Abgesang auf Kinderfahrautomaten, die neben Kiosken und vor Einkaufszentren in Vergessenheit geraten.
Auch den zweiten Preis teilten sich zwei unterschiedliche Werke. In Levan Tsintsadzes „Der Mann mit dem Fahrrad“ entsagt ein Philosoph sozialer Interaktion, bis eine flüchtige Begegnung seine Meinung ändert. Der schräge Schwarzweiß-Film zeigt, dass kein Mensch eine Insel ist. „Kursmeldungen“ von Rainer Komers montiert Impressionen aus Schleswig-Holstein: Eine Kuh wird gemolken, ein Windrad in schwindelerregender Höhe gewartet, eine Achterbahn kreischt vorbei. Die Fragmente kartografieren in der Fantasie eine Vorstellung des deutschen Nordens.
Mit dem trailer-Querdenkerpreis ausgezeichnet wurde der Filmessay „Eine Kneipe auf Malle“ von Marian Mayland. Der reflektierende Off-Kommentar legt sich über körnige Szenen einer NPD-Demo. Gebannt auf längst abgelaufenem Filmmaterial, so gestrig wie die menschenverachtende Ideologie, die die Demonstranten treibt. Mayland liefert Fragen, aber keine einfachen Antworten darauf, wie mit der Neuen Rechten umzugehen ist. Der action:gender-Preis ging an „Nick“ von Nick Kempf und Julian Pawelczik. Als Mädchen geboren, begleitet Nick mit der Doku seine Transformation zum Mann, eignet sich die neue Geschlechtsidentität und eigene Geschichte an. Er stellte seinen Film selbst vor: „Ich wünsche mir, dass mein Film anderen Transmenschen Mut macht.“ Das Publikum stimmte mehrheitlich für „Im Dschungel der Flüchtlinge“ von Sophia Gamboa, Andreas von Hören und Maman Salissou Oumarou. Entstanden vor dem Abriss in den illegalen Flüchtlingslagern von Calais, will der Film Geflüchteten eine Stimme geben und erinnert daran, dass noch immer weltweit Millionen von Menschen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Armut sind. Neben den Wettbewerbsfilmen beeindruckte Ulrike Pfeiffers „Werner Nekes – Das Leben zwischen den Bildern“ über den inzwischen verstorbenen Experimentalfilmer und Sammler. 40.000 Exponate zur Vorgeschichte des Kinos finden sich in seinem Haus in Mülheim a.d. Ruhr. Ein Ort, um diese Sammlung dauerhaft zugänglich zu machen, wird gesucht. Ulrike Pfeiffer schwärmte im anschließenden Gespräch, dass Nekes sich Zeit seines Lebens die Fähigkeit, Bilder ohne Vorurteile direkt in die Augen fließen zu lassen, bewahrt habe. Eine Tugend, auf die auch das blicke-Festival stolz sein kann.
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