Die Zeit der Frauen bricht an am Aalto-Theater. Nicht nur im wörtlichen Sinn, weil mit Merle Fahrholz nun die erste Intendantin am Ruder des Essener Operntankers steht. Auch in der Eröffnungs-Inszenierung der – noch von Fahrholz‘ Vorgänger Hein Mulders konzipierten – Spielzeit leitet in der „Tannhäuser“-Regie von Paul-Georg Dittrich die finale Szene auf etwas Neues hin: Elisabeth und Venus, einträchtig beieinander sitzend, werden von Kindern mit Blüten bestreut. Aus ist’s mit der leidensvollen Dialektik von sinnlichem Eros und selbstloser Liebe, vorbei der unglückselige Dualismus, der Seelen spaltet und innere Konflikte sät. Tannhäuser versinkt in Schwärze, Wolfram von Eschenbach windet sich in zuckenden Krämpfen am Boden. Und das Wesentliche scheint am Rand zu erblühen: Dort sitzt ein seiner Flügel beraubter Ex-Engel (es ist der Hirte aus dem ersten Aufzug) und liest mit einem Kind den „Tannhäuser“-Klavierauszug – als ein Märchen aus einer überwundenen Zeit?
An die Ekelgrenze
Dittrich hat nicht immer Glück dabei, seine überbordende Fantasie zu kanalisieren. Er hat am Aalto seinen Einstand mit einem faszinierend psychologisch aufgefächerten Gluck-Orfeo gegeben. Schon in Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ hatte der Mann abzutreten, aber Dittrichs Szenerie ertrank in Bilderrätseln. Streckenweise geht es dem „Tannhäuser“ nun auch so. Denn mit Vincent Stefan und Tilmann Rödiger sind Video-Künstler zugange, deren Fantasie sich mit ihrer technischen Virtuosität paart und zu atemberaubenden Bildern führen kann. Im ersten Akt treiben sie die Fleischlichkeit schon an die Ekelgrenze, wenn sie in einem Labor Schwangerschaft und Gebären auf blutig-technische Vorgänge reduzieren, bei denen auch ein tot (?) geborenes Kind vom Kameraauge gestreift wird. So werden Szenen assoziativ aufgeladen – und das nicht immer zum Vorteil.
Die Bühne Pia Dederichs spielt mit vertrauteren kunsthistorischen Leitmotiven. Im ersten Akt liegt die „Venus von Milo“ gestürzt und auf Brüste und Bauch reduziert wie ein riesiger Riegel hinter der Szenerie; vielleicht das Urbild männlich-heteronormativer sexueller Fantasien, vielleicht die gestürzte Unschuld des sinnlichen-schönen Körpers. Im zweiten Aufzug gibt Raffaels Renaissancefresko „Schule von Athen“ von 1510 aus dem Vatikan der Bühne symbolisches Gewicht: Ausgeglichenheit beherrscht die Szene, der Fluchtpunkt der Zentralperspektive liegt im Unendlichen.
Konzentrierte Regie
In diesem Akt verbinden sich szenische Chiffren aufs Glücklichste mit der konzentrierten Regie Dittrichs. Die strenge Symmetrie steht für die Ordnung der Wartburg-Gesellschaft, deren Mitglieder mit antikisierenden Masken sich selbst nur „darstellen“ und ihrer Individualität beraubt sind. Landgraf Hermann – mit sonorer Würde gesungen von Karl-Heinz Lehner – versucht immer wieder, die Ordnung wiederherzustellen, die zuerst von Tannhäuser durchbrochen wird, denn er weiß um die Gefahr des alles aufsprengenden Eros für die Gesellschaft.
Dittrich stellt die Verbundenheit von Elisabeth mit dem rebellischen Sänger heraus: Sie ist eine Wissende, die hofft, mit Tannhäusers Venus-Erfahrung endlich den holden Abendstern auf die Erde, den „Bronnen“ an die Lippen führen zu können. Dittrich macht deutlich, dass eigentlich alle um das Problem zwischen sinnlich-sexueller Unmittelbarkeit und intellektueller Rationalisierung wissen, den Zwiespalt aber auf ihre je eigene Weise verdrängen – durch kalkulierende Apathie (Christopher Hochstuhl als Heinrich der Schreiber), eilfertige Anpassung (Mathias Frey als engtöniger Walther von der Vogelweide), Aggression (Andrei Nicoara mit klarer Artikulation als Biterolf) oder vergeistigende Sublimierung (Wolfram von Eschenbach).
Venus' Sehnsucht
Auf diesen Wolfram lenkt Dittrich den Fokus im dritten Aufzug: Heiko Trinsinger, ein stimmlich souveräner Gestalter, der schon 2008 in der Inszenierung von Hans Neuenfels am Aalto gesungen hat, kann dem venerischen Begehren nicht mehr widerstehen, reißt Elisabeth an sich, küsst sie gewaltsam, erwürgt sie – und sieht mit Entsetzen, wie an der Stelle des toten Körpers Venus liegt. Das „Lied vom Abendstern“ ist nur noch Flucht; den Fluch des Papstes („Hast Du so böse Lust getan“) singt Tannhäuser aus dem Zuschauerraum, mit dem Finger auf den zusammenbrechenden Wolfram zeigend. Der windet sich in Qualen, während er – und nicht Tannhäuser – in rotem Licht von Venus willkommen geheißen wird. Im Hintergrund wurde derweilen die ganze Zeit das Fresko Raffaels weiß übermalt. Die Zeit des männlich-rationalen Diskurses ist passé.
So inszeniert Dittrich einen ständig zum Zerreißen gespannten gedanklichen Bogen, dem der schreibende weiße alte Mann nur ein etwas subtileres Finalbild gegönnt hätte. Mit vielen Nebenszenen und Detaileinfällen hält Dittrich den Zuschauer auf Trab. Das ist zunächst nicht verwerflich, macht es aber schwer, die Fäden zu entwirren, vor allem, wenn Wichtiges signalisiert wird, das sich dann doch irgendwo verläuft. Die Kinder zum Beispiel, die geheimnisvoll durchs Parkett geistern, erschließen sich nicht – und die im Programmheft geäußerte und auf der Bühne durch einen Kinderwagen bestätigte Vorstellung, Venus würde sich nach Familie sehnen, grenzt schon ans Abseitige.
Ärgerlich störend und szenisch irrelevant wirkt auch der Chorauftritt im ersten Aufzug, bei dem ratternd hereingerollte Gerüste die Musik erheblich stören. Auch Lena Schmids silbrige Overalls für den Chor verrätseln eher, während sie mit dem schlichten Weiß der Protagonisten und mit spielerisch antikisierenden Gestaltungselementen sonst eine glückliche Hand beweist.
Keine Wünsche offen
Nicht immer glücklich das Händchen von Tomáš Netopil: Der Essener Generalmusikdirektor meidet durchaus gewinnbringend das krachende Bläserpathos und den aufgedunsenen Streichersound, kleidet viele kostbare Piani in beinah schon impressionistische Klangsphären, lässt aber das Drängende etwa der Venusberg-Musik vermissen, fasst die nervöse Bewegung zu statisch-lyrisch auf und könnte hin und wieder auch einmal seinen Sängern auf den Mund schauen. Überzeugend die dynamische Entwicklung im dritten Aufzug hin zu einem strahlungsintensiven Finale. Daran hat auch der Chor seinen entscheidenden Anteil, der von der Galerie herunter intonationsgenau und kernig singt. Der neue Aalto-Chordirektor Klaas-Jan de Groot hat damit einen überzeugenden Einstand gegeben.
Unter den Solisten verdient Astrid Kessler die Palme: Nicht häufig genießt man eine so entspannt leuchtende, makellos artikulierende Elisabeth, die noch dazu in Gestalt und Spiel den vokalen Eindruck vollendet. Heiko Trinsinger steht ihr nicht nach; bei ihm spürt man in jeder Phrase, wie bewusst er die Mittel seines Baritons einsetzt. Deirdre Angenent lässt als Venus im Lauf des Abends keine Wünsche offen, kann die Stimme sinnlich glühen, aber auch kämpferisch auftrumpfen lassen.
Mercy Malieloa als Neuzugang im Ensemble geht die wenigen Zeilen des jungen Hirten sehr vorsichtig und im Ton unstet an – das könnte sich nach dem Premierenfieber noch ändern. Mit der mörderischen Partie des Tannhäuser kommt der hochgelobte Daniel Johansson respektabel zurecht: Sein anfangs steifes und schwerfälliges Vibrato löst sich im zweiten Akt in sehrendes tenorales Feuer. Das gefürchtete „Erbarm‘ Dich mein“ bewältigt er, ohne die Mühe merken zu lassen, und in der Rom-Erzählung kann er zwar weniger Koloristik, aber noch imposante Kraftreserven einsetzen. Ovationen für Netopil, kräftige Buhs für Dittrich – nach dreieinhalb Stunden war die Premierenstimmung perfekt und Essen hat einen Spielzeitauftakt, mit dem sich auseinanderzusetzen lohnt.
Tannhäuser | 1.10 18 Uhr, 16.10. 16.30 Uhr, 6.11. 18 Uhr, 27.11. 16.30 Uhr, 1., 16., 22.12. 18 Uhr, 7.1. 18 Uhr | Aalto Theater, Essen | Info: 0201 81 222 00
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