trailer: Frau Gürbaca, warum haben Sie sich darauf eingelassen, die völlig unbekannte Oper „Fausto“ der französischen Komponistin Louise Bertin am Aalto-Theater zu inszenieren?
Tatjana Gürbaca: Ich finde unbekannte Werke generell spannend und befreiend. Man hat nicht so viele Bilder im Kopf wie bei häufig gespielten Repertoirewerken, von denen man schon viele Inszenierungen gesehen hat. Und wenn eine davon total überzeugend war, ist es für mich schwer, einen Grund zu finden, warum ich diese Oper noch einmal erzählen sollte. Ein frisches, ungesehenes Werk dagegen öffnet die Fantasie und lässt reizvolle Entdeckungen machen.
Hat Sie der Stoff gereizt? Immerhin geht es um Faust, eine der bedeutendsten Figuren der deutschen Literatur.
Unglaublich, dass sich in Frankreich um 1830 eine querschnittsgelähmte junge Frau aufmacht, um aus einem deutschen Stoff eine italienische Oper zu machen – zu dem Zeitpunkt war Goethes „Faust“ noch gar nicht ins Französische übersetzt. Louise Bertins Vater hat ihr alles ermöglicht, damit sie sich entfalten konnte. Louise hat gemalt, geschrieben, komponiert, zum Beispiel eine weitere Oper, „Esmeralda“, die vielleicht noch bedeutender für sie war als „Fausto“. Diese Frau hatte einen eigenständigen Kopf und einen sehr persönlichen Blick auf die Welt. Sie fasst den Faust-Stoff beinahe als Satire auf. Das Stück hat Humor, buffoneske Stellen, sogar einen gewissen Zynismus. Mephistopheles bräuchte es da gar nicht, denn die Menschen schaffen sich selbst ihr Unglück. Da liegt viel Wahrheit drin. Musikalisch ist „Fausto“ eine Mischung aus Mozart und Rossini, und Hector Berlioz schaut schon ums Eck. Man hört seine Einflüsse so deutlich, dass es den – nicht zutreffenden – Vorwurf gab, die Oper sei zum größten Teil von Berlioz geschrieben worden.
Bertin konzentriert sich auf die Liebesgeschichte von Faust und Margarethe …
Anders als in den Faust-Opern von Charles Gounod und Arrigo Boito („Mefistofele“, Anm. d. Red.) finden wir bei Bertin eine Beschränkung auf Faust I. Am Beginn steht eine große dämonische Szene, in der Faust Mephisto aktiv zu sich ruft. Faust und Margarethe sind im Folgenden die treibenden Kräfte. Mephisto baut hin und wieder Brücken, aber gibt keinen Anstoß zur Tat. Das machen die Menschen selbst, die Mephisto mit Ironie beobachtet und kommentiert. Er schaut fast kopfschüttelnd zu, wie sie sich ihr eigenes Unglück bereiten.
Die Menschen sind also selbst verantwortlich, nicht der Einfluss einer höheren Macht?
Genau. Bertin beschreibt, wie doppelzüngig die Gesellschaft ist. Margarethe und ihre Freundinnen wissen, wie gefährlich es für eine junge Frau ist, sich zu verlieben – und doch ist das ihr wichtigster Lebensinhalt! Am Ende der Hierarchie in der Gesellschaft stehend, haben sie keine Chance: Was sie machen, machen sie verkehrt. Für Margarethe ist das eine Katastrophe, und ihre Freundinnen werden erst zu Neiderinnen, dann zu Gegnerinnen.
Ist es zu spüren, dass die Oper von einer Frau geschrieben ist?
Absolut. Margarethe ist neben Faust die zentrale Figur in einer wirklich existenziellen Not. Sie ist umgeben von neidischen Menschen. Die Frauen misstrauen sich gegenseitig und sind nicht solidarisch zueinander. Auch in der Dämonenszene ist die wichtigste Figur eine Hexe.
Was sagt uns das fast 200 Jahre alte Werk heute?
In erster Linie spricht es über die gesellschaftliche Rolle von Frauen. Und dann zeigt es uns, wie Menschen kaum in der Lage sind, sich ihres Verstandes zu bedienen; wie sie dumm genug sind, sich selbst ins Unglück zu stürzen. Das betrifft nicht nur die Liebe. Wir sehen das heute ja auch etwa im Verhältnis zu unserer Umwelt oder in der Kriegstreiberei, die wir gerade erleben.
Worauf legen Sie in Ihrer Inszenierung den Akzent?
Ich freue mich darauf, mit den drei Hauptsolisten ein intensives Zusammenspiel zu entwickeln, aber auch auf die großen Chorszenen. Denn ich arbeite gerne mit dem Chor, vor allem mit dem Chor des Aalto Theaters. Unsere Darsteller, vor allem Jessica Muirhead als Margarethe, spielen gerne und haben den Humor, den das Stück braucht. Auch Mephisto ist eine Figur mit buffonesken Zügen, er hat witzige, beschwingte Musik. Da gehen einem die Ohren auf! Wer mit Neugier und offenen Ohren in das Stück kommt, wird einige ungewöhnliche Eindrücke erfahren, die nicht den ersten Erwartungen entsprechen. Das wird großen Spaß machen.
Fausto | 27.1. (P), 4., 8., 23.2., 9., 17.3. | Aalto-Theater Essen | 0201 812 22 00
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