trailer: Herr Kampe, wie sind Sie darauf gekommen, den Stoff des Films „Dogville“ von Lars von Trier als Vorlage einer Oper zu wählen?
Gordon Kampe: Das Aalto-Theater Essen ist direkt auf mich zugekommen. Wir waren uns bei so einem tollen Stoff natürlich schnell einig, da überlegt man nicht...
Wieso, denken Sie, hat Intendant Hein Mulders ausgerechnet Sie ausgewählt, „Dogville“ zu komponieren?
Ich vermute, weil die Singstimme für mich ein zentrales Thema ist. Ich habe viel Vokalmusik geschrieben und habe auch keine Angst vor der Opernstimme, sie ist in vielen meinen Kompositionen dabei. Das könnte für den Stimmspezialisten Mulders vielleicht ein Argument gewesen sein. Würde mich jedenfalls freuen, wenn’s so wäre.
Haben Sie nicht angesichts der Bekanntheit des Films gezögert?
Als mir Hein Mulders die Idee nahebrachte, war es mir irgendwie gleich klar: Ich mache „Dogville“. Mir kam es wie ein Blitz, dass der Stoff für eine Oper wie geschaffen ist. Natürlich kannte ich den Film. Es steckt viel Psychologie drin, es gibt keine special effects, es ist ein Kammerspiel, in dem viel über die Rollen kommuniziert wird. Das hat mich alles gleich überzeugt.
Wie nähert man sich als Komponist einem solchen Stoff, der bereits mehrfach auf der Schauspielbühne zu sehen war und im Film eigentlich optimal verarbeitet wurde?
Indem ich versuchte, den Film so schnell wie möglich zu vergessen. Ich hatte ihn früher schon gesehen und im Zuge der Vorbereitungen der Oper aber nur noch einmal angeschaut. Es wird also keine Oper über den Film geben. Mein Job ist, eine Oper zu schreiben, nicht, einen Film auf die Opernbühne zu bringen. Das Libretto bleibt nahe am Drehbuch. Man wird einige Sätze aus dem Film wiedererkennen. Aber die Perspektive ist deutlich gewechselt. Die sachliche Ebene des Erzählers ist in der Musik verschwunden. Die Oper nimmt die Perspektive der Hauptperson Grace an, so als trüge sie eine Kamera auf dem Kopf, die alles mitverfolgt, was sie denkt.
Wann sind Sie in die Arbeit eingestiegen?
Wir haben Ende 2017 über das Projekt gesprochen. Die Vorläufe für eine solche Uraufführung sind ja lang. Für eine Oper mit üppigem Orchester und großer Sängerbesetzung braucht die Disposition ihre Zeit. Der Sommer 2020 war als Deadline für die Abgabe des Materials vorgesehen. Aber im Frühjahr kam Corona. Die Tinte war noch nass, als Hein Mulders angerufen hat und sagte: „Wir müssen um zwei Jahre verschieben.“ Ich habe die Komposition ein Jahr lang nicht angerührt und bin dann noch einmal komplett drübergegangen. So erleben wir jetzt praktisch die Uraufführung einer bereits revidierten Fassung. Vor etwa eineinhalb Jahren habe ich die Arbeit abgeschlossen.
Wie muss man sich den kreativen Prozess beim Schreiben einer solchen Oper vorstellen?
Erst einmal ist es viel, viel Arbeit. Ich habe keine plötzlichen „Inspirationen“, wie man sich das vielleicht manchmal vorstellt. Manchmal guckte mich die DVD mit dem Film böse an und ich war in Gefahr, einfach mal nachzuschauen, wie Lars von Trier bestimmte Momente im Film gelöst hat. Der Arbeitsprozess stockte dann auch einmal. Aber ich habe den Film in den Giftschrank gepackt. Mit Regisseur David Herrmann und Dramaturg Christian Schröder bin ich immer wieder über den Text gegangen. Wir haben bearbeitet und gekürzt. Die Zusammenarbeit mit dem Produktionsteam fand ich sehr schön. Es ist „unser“ Dogville, das da entstanden ist. Die Figuren werden anders als im Film sein, selbst wenn sie den gleichen Text sprechen oder singen. Im Gesang mit Orchester verändern sich – weil’s nun einmal gesungen wird – natürlich auch die Figuren.
Wie behandeln Sie das Orchester?
Das Orchester hat eine eminent wichtige Funktion. Aber es wird sich stilistisch nicht an den Film ranwanzen, der ja oft Barockmusik als Begleitung benutzt. Ich zitierte nicht ansatzweise die Musik des Films. Ich zitiere auch nicht Musik der Zeit, in der das Stück spielt. Ich hole das Thema aus der Zeit heraus: Dogville könnte auch Bottrop sein. Die Musik wird dramatisch und – hoffentlich – ziemlich emotional sein, nicht so distanziert wie im Film. Die Oper wird, was nahe liegen könnte, kein eher sachlich-distanziertes Theater sein wie etwa bei Kurt Weill oder Hanns Eisler. Das war meine erste Idee, da ich ein sehr großer Fan dieser Musik bin – aber manchmal sind die ersten Ideen doch nicht die besten. Es geht also jetzt etwas drastischer zu …
Und die Musik?
Das Orchester ist besetzt etwas wie in einer großen romantischen Oper, aber mit ziemlich viel Schlagzeug. Daher gibt es manchmal ziemlich kernige Beats und rhythmische Impulse. Jede der 18 Szenen bekommt ihren eigenen Sound, der die Räume charakterisiert. Das Haus des blinden Jack McKay etwa bekommt einen bedrohlich düsteren Klang, das durch feine Sinustöne im Raum etwas Unkonkretes, Geisterhaftes an sich trägt.
Wie gehen Sie mit den Gesangsstimmen um?
„Dogville“ wird ein richtiges Sängerstück mit vielen Rollen das Ensemble. Ich wollte, dass die Darsteller wirklich singen. Eine Partie wie die der Grace, gesungen von Lavinia Dames, ist ganz aus der Stimme heraus entwickelt. Die Zuschauer können also eine richtige Sänger- und Ensembleoper erwarten. Ich habe mich öfter ins Aalto-Theater eingeschlichen, die Sänger angehört und den Raum erspürt. Mit Lavinia Dames habe ich auch praktische Fragen erörtert, damit ich ihr eine Partie schreiben konnte, mit der sie sich wohl fühlt. Es war ein großer Vorteil, das Produktionsteam so früh im Entstehungsprozess der Oper zu kennen. So hat etwa auch der Regisseur schon früh einen Blick auf die Partitur gehabt, da war sie noch längst nicht fertig.
Wie gestalten Sie die verstörende Schlussszene, in der „Grace“ eben gerade keine Gnade walten lässt?
Die Oper dauert etwa 95 Minuten und der Schluss wird wirklich kurz, obwohl ich an der Musik zu dieser Szene am längsten gesessen bin. Das Gnadenlose dieser dann so anderen Grace wird sehr schnell passieren, aber es gibt noch eine kurze Arie, so, als stünde die Zeit still. Auch das Orchester kennt in diesem Finale kein Erbarmen. Mehr soll jetzt aber noch nicht verraten werden…
Dogville | 11.(P), 15., 23., 26.3., 1., 16., 30.4. | Aalto-Theater Essen | 0201 81 22 200
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