Die Mathematiklehrerin Claire beginnt eines Tages, einen kaum wahrnehmbaren tiefen Brummton zu hören. Der „Hum“ treibt sie an die Grenzen ihrer seelischen Kräfte. Durch Zufall erfährt sie, dass einer ihrer Schüler das Geräusch ebenfalls hört. Die beiden schließen sich einer Selbsthilfegruppe an, die von einem charismatischen Psychiater geleitet wird. Das bisherige Leben von Claire gerät allmählich außer Kontrolle. Am Essener Aalto-Theater findet die deutsche Erstaufführung von Missy Mazzolis Oper „The Listeners“ statt. Damit setzt das Theater seine Linie fort, Werke von Frauen in den Fokus zu rücken. Ein Gespräch mit Regisseurin Anna-Sophie Mahler.
trailer: Frau Mahler, wie sind Sie zu der Regie von „The Listeners“ am Aalto-Theater gekommen?
Anna-Sophie Mahler: Intendantin Merle Fahrholz, die ich noch aus ihrer Zeit als Dramaturgin in Biel/Schweiz kenne, hat mich angefragt, nachdem ich mit Olivier Messiaens „Saint Francois d‘Assise“ eine große Inszenierung in Stuttgart realisiert hatte. Ich kannte bis dahin nichts von Missy Mazzoli. Beim Reinhören war ich begeistert von ihren Klangwelten und habe mich gerne in den Sog der Geschichte begeben. Bei der Uraufführung in Oslo suchte die Regie einen eher realistischen Weg der Umsetzung. Mir war bald klar, dass ich mehr auf eine innere, surrealere Logik setzen möchte. Meine Inszenierung wird also sehr anders als diejenige in Oslo.
Ist die Story eher ein Thriller oder ein surreales Stück?
Es geht konkret um ein Phänomen, das tatsächlich auftaucht: Der dumpfe Brummton, den etwa vier Prozent der Weltbevölkerung hören können, ist nicht erforscht. Es ist kein Tinnitus. Viele Berichte darüber kursieren, aber man weiß nicht, woher es kommt und was es sein soll. Eine Wahnvorstellung ist es wohl nicht, dazu ist es zu zuverlässig bezeugt. Man kann es als Tatsache also nicht einfach vom Tisch wischen. Die Oper basiert auf einer Novelle des Kanadiers Jordan Tannahill, die 2021 auf der kanadischen Bestsellerliste stand. Die Hauptfigur Claire fällt aus ihrem bisherigen Leben heraus und findet Verständnis und Zusammenhalt in einer neuen sektenähnlichen Gemeinschaft.
In der Oper gibt es zwei surreal anmutende Szenen, in denen Claire auf einen wilden Koyoten trifft. Welche Bedeutung sehen Sie darin?
Clairs Nähe zu einem Koyoten finde ich sehr interessant. Warum ausgerechnet ein Koyote? Als ich der Frage nachgegangen bin, bin ich auf eine sehr spannende Aktion von Joseph Beuys von 1974, „I like America and America likes me“ gestoßen. Beuys flog dazu in die USA, ließ sich komplett in Filz einwickeln, um nichts vom Land zu sehen, und in die Galerie René Block in New York fahren. Dort verbrachte er mehrere Tage mit einem Koyoten in einem Raum. Der Koyote ist ein heiliges Tier für Indigene in den USA und spielt in Schöpfungsmythen eine aktive Rolle. Die Zugewanderten in den Staaten sehen Koyoten dagegen eher als Bedrohung an. Was bedeutet es also, wenn Claire in Kontakt zu dem Tier tritt? Ist es ihre Sehnsucht nach Verbundenheit mit etwas Ursprünglichem? Oder ein Zeichen dafür, durch ihre Leben vom Ursprünglichen abgespalten worden zu sein? Ein Symbol für die Zerrissenheit von Kultur und Natur? Wir spüren ein Unbehagen, etwa Fehlendes in unserer Kultur, weil wir uns immer mehr entfremdet haben. Und in „The Listeners“ geht es am Ende auch darum, wie kann dieses daraus entspringende Verlorenheitsgefühl des Menschen benutzt werden von Gruppen, die Menschen ausnutzen und manipulieren, wie es die Gemeinschaft des „Philosophen“ Howard?
Kann Claire die Probleme am Ende lösen?
Wir müssen mit der Ambivalenz leben, wir können nicht in irgendeinen „Naturzustand“ zurück. Wir müssen uns neu erfinden. Der Schluss der Oper wirft spannende Fragen auf, die wir versuchen, in der Inszenierung aus der inneren Logik der Figur Claire heraus zu denken.
Noch ein paar Worte zur Musik: Missy Mazzolis Musik wird als melodiös, sangbar, leicht fasslich beschrieben …
Sie steht in der Tradition moderner amerikanischer Musik, die anders als die Musik ist, die wir in Europa als zeitgenössisch ansehen. Obwohl Mazzoli nicht „atonal“ schreibt, ist die Musik zunächst ungewohnt für die Ohren. Aber sie schafft es, heutige Situationen singbar und sinnlich erfahrbar zu machen und durch ihre Klangwelten einen Sog zu entwickeln, dem man sich nicht mehr entziehen kann.
The Listeners | 12. (Matinee), 20. (Öffentliche Probe), 25.1. (P), 1., 9., 28.2., 8., 22.3. | Aalto-Theater, Essen | 0201 81 22 200
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