In einem Theaterstück, in dem in den ersten Minuten Urzeitkrebse (artemia nyos) einer Jugendzeitung verhandelt werden, wird es anschließend kaum um das tägliche Roboten gehen – oder etwa doch? Das Theater glassbooth jedenfalls fackelt bereits in den ersten Minuten ein paar performative Löcher in die schnöde Welt da draußen. Willem, Namensgeber der neuen Produktion, die im Dortmunder Depottheater seine Premiere feierte, lebt in einer wilden Welt, die ihm allerdings sein Unterbewusstsein eher vorgaukelt und die wohl auch nur die Zuschauer tatsächlich wahrnehmen können. Eigentlich sitzt der arme Kerl da bei einer Therapeutin, weil ihm das Leben nicht recht gelingen will. Seien Sie sicher, am Ende des Abends werden wir die Ursachen kennen.
Regisseur Jens Dornheim setzt bei diesem Erinnerungsreigen auch auf filmische Momente, die choreografische Einlagen, skurrile Szenen und bekannte und unbekannte Slapstick aus Video- und TV-Produktionen brechen. Ja, das hört sich gut an, aber wie soll man auch kleine Clips bezeichnen, in denen blutige Tampons die Mittagssuppe geschmacklich verbessern? Der kleine Willem jedenfalls war dabei und ich denke, es hat ihm schon geschadet. Mental, wenn ihr wisst was ich meine. Ab da war nix mehr mit „fokussiere“: Willem wurde der Außenseiter, der immer Opfer war, wenn die Droogs ihm auflauerten. In Dornheims Lebensanalyse geht es da aber nicht um brutale Gewalt (ein bisschen schon) – nein, die beiden Streetfighter fragen deutsches Gedichtgut ab, op platt un watt von Eichendorff. Inzwischen hat der Szenenreigen die Gelächterschmerzgrenze überschritten.
Mit Willems erster Freundin Georgina geht es in der Therapeutenaufarbeitung weiter, auch da versagt er – irgendwie, nur im filmischen Traum (siehe oben) ist er der Macker, der die Tussis dominiert. Aber „grab that pussy“ ist eben auch keine Lösung, wenn man ein „total loser“ ist. Dazu muss man heiß geföhnter Präsi sein. Dornheims sechs Protagonisten geben alles, fünf wechseln Rollen, Mimik und Klamotten im Minutentakt, einer kann eben nur der Willem sein, andere sabbern im Arbeitsamt. Es folgen wilde Szenen in einer wilden Welt, man rauscht durch Duchamps Gedankenwelt, bevor das Märchen im Märchen die Oberhand gewinnt und irgendwie neue Impulse in Willem setzt. Skurril, verrückt. Mich verfolgt der gepresste rote Wattebausch.
„Willems wilde Welt“ | P: Jens Dornheim | Sa 29.6. 19.30 Uhr | Magazin Gladbeck | 0173 717 02 10 | WA in Dortmund im September | www.magazin-gladbeck.de
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