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Politologin Gesine Schwan
Foto: Nina Hensch

Boomerang Flüchtlingskrise

27. November 2017

Politologin Gesine Schwan spricht im KWI Essen über die europaweite Verteilung von Flüchtlingen – Spezial 11/17

Der Raum hell erleuchtet. Zeitungen rascheln. Im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen ist das Podium so nah, dass es beinahe wie ins Publikum eingebettet wirkt. Ein Vortrag in familiärer Atmosphäre. Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan erscheint mit Verspätung – die Zuschauer erwarten sie. Im Gepäck: ein längst überfälliges Konzept zur Flüchtlingsintegration auf EU-Ebene.

Das Problem sei die „dezentrale Ansammlung von Flüchtlingen“, so Schwan. Nahezu überlastet mit ständig steigenden Flüchtlingszahlen blieben Behörden und ganze Ortschaften in Erstaufnahmeländern wie Italien und Griechenland zurück. Dass Deutschland ebenfalls von anderen europäischen Ländern während der Flüchtlingskrise kaum unterstützt wurde, wundert die ehemals für das Amt des Bundespräsidenten Nominierte nicht. Das komme daher, weil Deutschland es vielen Ländern schwer gemacht habe, in Zeiten der Bankenkrise. Die Flüchtlingskrise wurde so auf deutscher Ebene zu einem Boomerang und endete in einem verpassten Moment gegenseitiger Solidarität. „Solidarität kommt von solidus, also füreinander haften. Auch dann, wenn man sich verschuldet“, mahnt Schwan. Sie stellt die These auf, dass Deutschland keine Lösung für die Banken- oder die Flüchtlingskrise gehabt habe. „Krise reihte sich an Krise und wurde nur gemanagt, aber nicht gelöst.“ Damit beschreibt sie das diffuse Gefühl, das zu dieser Zeit in jedem einmal aufkeimte: Die Unsicherheit, ob die Regierung einen Plan hat oder nicht.

Um Flüchtlinge innerhalb der EU zu integrieren, schlägt sie die Einrichtung eines EU-Fonds vor, der sich an Kommunen und Gemeinden innerhalb der EU richtet. Besonders wichtig, so Schwan: Diese können dann unabhängig von nationalen Regierungen „selbst entscheiden, ob und wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen“ und vorab die Vor- und Nachteile abwägen. Das Konzept sieht vor, dass die Gemeinden die Kosten für die „kulturelle und soziale Integration“ der Flüchtlinge ersetzt bekommen und dieselbe Summe zusätzlich erhalten. Mit diesem Geld können sie dann ihre Kommune weiter entwickeln. Geplant sei, das zweite Budget von der Flüchtlingsintegration zu entkoppeln. Die Politikwissenschaftlerin setzt ihre Hoffnung in ein Pilotprojekt mit 160.000 bisher noch nicht angesiedelten Flüchtlingen. Prominente Unterstützung erhält sie derzeit von ihrem SPD-Parteikollegen Thomas Oppermann. Er nahm ihre Idee ins Parteiprogramm auf. Schwan knüpft damit ganz bewusst an Emmanuel Macrons Rede im September in der Sorbonne an, in der er daran erinnerte, dass Europa gemeinsame Investitionen brauche.

Das Konzept ließe sich gleichermaßen auch auf Afrika übertragen. Schwan stützt ihre Aussage auf afrikanische NGOs: „Der Bedarf, sich dort zu entwickeln, ist ebenso groß.“ Stadtpartnerschaften wie mit dem libyschen Tripolis gäbe es bereits. „In einem instabilen Land muss die Stabilität von unten kommen: durch Investitionen & Arbeitsplätze“, so Gesine Schwan. Stellt sich dabei die Frage, inwiefern dieses Vorhaben kontrollierbar bleibt – damit Gelder wirklich dort ankommen, wo sie gebraucht werden und nicht schon vorher versickern. Auch dafür hat die Politikwissenschaftlerin Ideen: Um dem vorzubeugen, denkt sie an Anti-Korruptionsstrategien à la Transparency International.

In der späteren Diskussion stellt sie sich bereitwillig allen kritischen Fragen des Publikums zu Fluchtursachen, Migrationsdruck, bis hin zu gesellschaftlichem Konsens. Regelrecht erheitert meint sie: „Das ist ja hier beinah wie im Proseminar.“

Auf die Frage, wieso man Flüchtlinge an Orte schicken solle, an denen es keine Arbeit gäbe, führt sie aus: „Wo Druck und Sorge entsteht, kommen die Lösungen. Sie können dort dann vielleicht nicht sofort Arbeitsplätze anbieten, aber vielleicht in ein, zwei Jahren.“ Schwan relativiert die Angst vor Migrationsdruck mitsamt aller Push- und Pull-Faktoren: „Zu diesem Thema gibt es unterschiedliche Theorien.“ Die Fakten sprächen eine deutliche Sprache: „95 Prozent bleiben in Afrika, es sind 5 Prozent, die sich auf den Weg machen“, so die Politikwissenschaftlerin. Dass in den nächsten Jahrzehnten vermehrt Flüchtlinge kommen, da klimabedingte Fluchtursachen – derzeit  Hauptfluchtgrund – aufgrund des Klimawandels noch zunehmen, wäre dem allerdings entgegenzusetzen. Auch in Bezug auf die Energiewende gäbe es viel Widerstand. Wie wolle sie gesellschaftliche Akzeptanz herbeiführen?, will eine Zuschauerin wissen. Besonders diese Anmerkung lässt Schwan am „freiwilligen Matching“ festhalten, Dadurch, dass keine Gemeinde verpflichtet sei, Flüchtlinge aufzunehmen würden nur Gemeinden Menschen aufnehmen, die das auch wirklich wollen, sagt sie.

Bislang spricht wenig gegen das Integrationskonzept von Gesine Schwan. Sie setzt auf eine freiwillige Basis statt oktroyierter Vorgaben. Die Entscheidung jeder europäischen Kommune und Gemeinde selbst zu überlassen, ist ein Novum in der bisherigen Debatte. Ob und inwieweit sie sich entwickeln möchten – hin zu einer offenen pluralisierten Gesellschaft – bleibt  ihnen überlassen.

Nina Hensch

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