Sebastião Salgados Werk polarisiere, leitete Anja Schürmann den Abend ein. Es werde beschrieben als emotional, aber auch als distanziert, als überbordend komponiert, aber auch als nüchtern schwarzweiß. Auch Salgado selbst vereine in seiner Person manche Spannung. Bekanntlich produziert der 1944 geborene autodidaktische Fotograf seine Arbeiten nicht nur, sondern kuratiert und vermarktet sie auch. Schließlich hat er sich dem aktiven Naturschutz verschrieben, nachdem er an den erschütternden Erlebnissen zu zerbrechen drohte, mit denen ihn seine langjährige Arbeit als Dokumentarfotograf konfrontiert hat.
Schürmann erforscht am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen die erzählerischen und ästhetischen Qualitäten von Fotobüchern. Sie hat die Veranstaltung „Arm aber erbaulich? Zur fotografischen Praxis Sebastião Salgados“ organisiert, gemeinsam mit Matthias Gründig, Mitarbeiter für Theorie und Geschichte der Fotografie an der Folkwang Universität der Künste.
Von ihren drei Gästen wollten die beiden zunächst wissen, wie sie die Verleihung des Friedenspreises an Salgado beurteilen. Die polarisierende Tendenz des Geehrten prägte die folgende Diskussion, die ein großes Publikum im prall gefüllten Saal verfolgte.
Erfreut über die Preisverleihung zeigte sich Evelyn Runge, die sich in Monographien unter anderem mit Salgados Werk auseinandergesetzt hat und ab April kommenden Jahres an der Universität zu Köln im Projekt „Das digitale Bild“ forschen wird. Persönlich sei ihr Salgado in den 90ern eine Inspiration für Schwarzweiß-Kontraste gewesen, für den Umgang mit Papier und analogen Fototechniken. Nicht zuletzt aber zeichne der Stiftungsrats des Friedenspreises zu Recht mit Salgado einen Fürsprecher der Menschenrechte und des Naturschutzes aus.
Elisabeth Neudörfl, Professorin für Dokumentarfotografie an der Folkwang Universität, gab lakonisch zu verstehen, wie sie den künstlerischen Rang Salgados einschätzt: In der akademischen Lehre spiele er keine Rolle und als Vorbild für Schwarzweiß-Fotografie sehe sie ihn nicht, eher als das Gegenteil. Sie hätte sich einen anderen Preisträger gewünscht.
Dagegen begrüßte auch Elke Grittmann die Preisvergabe. Die Professorin für Medien und Gesellschaft am Institut für Journalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal betonte ihr Interesse an der Frage, wie Bilder Menschen bewegen, welche „visuellen Stimmen“ Diskurse unter anderem über soziale Gerechtigkeit oder Völkerverständigung anregen. Dieses Verdienst sei Salgado keineswegs abzusprechen. „Der Preis passt“, schloss sie pointiert.
Die Frage rückte in den Mittelpunkt, ob und wie es Salgado gelinge, um Verständnis für die von ihm Fotografierten zu werben, beispielsweise für indigene Völker oder für bedrohte Tierarten. Moderatorin Anja Schürmann fragte tastend, ob Salgados epischer Duktus, umgesetzt in opulenten Bildbänden mit epochalen Titeln wie „Workers“, „Exodus“ oder „Genesis“, Resignation befördern könne, den Eindruck, dass wir uns globalen Entwicklungen gegenübersehen, gegen die ohnehin nichts auszurichten ist, die uns auferlegt sind, sei es durch gottgegebenes Schicksal oder namenlosen Zufall.
Wie zu erwarten, konnte Neudörfl zustimmend anknüpfen. Sie vermisse in Salgados Werk Aktualität und Aktivität, handelnde Menschen, die sich mit der Gegenwart auseinandersetzten. Seine Motive seien wie losgelöst vom Hier und Jetzt, beschwörten stattdessen romantische Fantasien herauf, beispielsweise wenn er das brasilianische Volk der Zo’é inszeniere, als lebe es unberührt seine Traditionen, während die indigene Kultur längst unter dem Druck der Moderne leide; oder wenn im gesamten Bildband „Afrika“ (erschienen 2007) nur zwei Autos zu sehen seien, nur zwei Spuren der Gegenwart. Welcher Impuls könne von einem Werk erwartet werden, das den Menschen nur Passivität zugestehe und ihr Leben dem Wandel der Zeit entziehe?
Diese Kritik ist im Kern nicht neu. Und ein Grund dafür, dass die Diskussion pro und contra Salgado andauert, ist freilich, dass seine Arbeiten ebenfalls Anlass für widerstreitende Deutungen geben – wie sollte es auch anders sein angesichts seiner Jahrzehnte dauernden Karriere? Auch das spiegelte die Diskussion an diesem Abend fortwährend wider. So wies Grittmann darauf hin, dass sich der Band „Afrika“ auch den Befreiungskämpfen in Mosambik und Angola widme oder dem Genozid in Ruanda, den Blick also deutlich auf Betroffene und Versehrte richte, auf Täter und Opfer der Geschichte.
Ein prägnantes Beispiel für Bildsprache legte Schürmann mit dem Portrait eines hungernden Jungen aus dem Bildband „Sahel“ (2004) auf: Die dürren Glieder des Menschen finden ihre Entsprechung im knorrigen Holz eines ausgedörrten Baumes. Mensch und Baum heben sich von dem Wüstensand ab und die Entwicklung der Hell-Dunkel-Kontraste auf Haut und Holz nähert beide optisch einander unverkennbar an – als stünden der leidende Mensch und die leidende Pflanze jeweils füreinander. Schürmanns Frage: Überlagert hier die Autonomie des Fotografen und Fotoentwicklers die Autonomie der Rezipienten? Sage das Bild mehr über Salgados Absicht aus als über das portraitierte Leben? Als geradezu anmaßend wies Runge den Verdacht zurück. Bildgestaltung und -entwicklung stünden keineswegs diversen Sichtweisen entgegen, deren Vielfalt sei schlicht selbstverständlich. Zum Beweis bräuchte letztlich doch nur das Publikum befragt werden – jede und jeder Einzelne.
In gewisser Weise einen Ausweg schlug Grittmann vor, indem sie hervorhob, dass Salgado kein Œuvre im eigentlichen Sinn vorgelegt hat, sondern zu unterschiedlichen Zeiten unter unterschiedlichen Bedingungen gearbeitet hat. Der Band „Sahel“, als Auftragsarbeit für Ärzte ohne Grenzen, müsse nun einmal auch die moralische Sensibilisierung des Publikums im Blick haben und entsprechende ästhetische Mittel wählen, um Leiden zu pointieren. Wo die Grenze zur Mitleidsfotografie überschritten werde, zur Manipulation, sei diskussionswürdig. Trotzdem dürften einzelne Aspekte in Salgados Schaffen nicht isoliert und für das Gesamtwerk genommen werden.
Gegen diese zeitgebundene Deutung der einzelnen Arbeiten sagte Neudörfl, es sei dann umso verwunderlicher, dass Salgado alles „so gleich“ fotografiere, sich die gestalterischen Mittel immerzu wiederholten einschließlich der schon von ihr beanstandeten Neigung, das Geschehen aus Zusammenhängen zu lösen. Das veranschaulichte sie an der Fotografie eines anonymen Cholera-Opfers, um das sich in einigem Abstand die Angehörigen seines Volkes versammelt haben. Salgado verlasse sich hier einmal mehr zu sehr auf die abbildende Rolle der Fotografie. Die Blicke der umstehenden Menschen, einschließlich des Fotografen, und der Blick des Bildbetrachters, würden nicht problematisiert; ein heikles Versäumnis, betont Neudörfl, zumal das Cholera-Opfer diesen Blicken hilflos ausgeliefert sei. Eine Fotografie des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar zog sie als besseres Beispiel für eine ähnliche Situation heran: Sie zeigt zwei Betrachter der Szene von hinten, das Geschehen vor ihren Augen bleibt uns rätselhaft; der menschliche Blick als Problem auf mehreren Ebenen, nicht als hingenommene Tatsache. Die Aussage des Salgado-Bildes resümierte sie stattdessen: „Da stirbt halt jemand.“
Diese Analyse werde Salgado nicht gerecht, wandte Runge ein. Der erzählerische Charakter der Bildbände, die fotografische Essays seien, keine bloßen Fotostrecken, erschließe sich nicht anhand der Einzelbilder. Dagegen bemerkte Neudörfl, dass die spärlichen Begleittexte der Bildbände kaum eine Erzählung ergäben und oftmals sogar die portraitierten Protagonisten unerwähnt ließen, während Details, Wandschmuck beispielsweise, erklärt würden.
In der anschließenden Publikumsdiskussion bemerkte ein Besucher, dass er den Zweifel in Salgados Bildern vermisse, eine Gebrochenheit und Vieldeutigkeit, für die auch viele Fotojournalisten einträten. Auch der verlockende Ansatz, die Bildsprache biographisch zu erklären, kam kurz zu Wort. Spätestens mit Wim Wenders Filmdokumentation „Das Salz der Erde“ (2014) sind Salgados Leben und Werk einem breiten Publikum bekannt. Sie verfolgt, wie der Fotograf, traumatisiert und erkrankt nicht zuletzt durch seine Dokumentation des Genozids in Ruanda, sich der Naturfotografie zuwendete und ein gigantisches Wiederaufforstungsprojekt auf der elterlichen Farm in Brasilien auf den Weg brachte. Diese Lebenswende erkläre die in seinen Bildern ausgemachte Harmonie vielleicht zum Teil, deutete eine Besucherin an. Einig schienen sich die Diskutierenden aber, dass die Psyche des Künstlers nicht maßgeblich ist, um das Werk zu beurteilen.
Entschieden sprach sich eine andere Besucherin gegen den Preisträger Salgado aus. Seine Arbeit stehe für den Kampf gegen Hass und Zerstörung, genauso wie die Werke anderer Preisträger und Preisträgerinnen des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Dagegen könne freilich niemand etwas haben, fuhr sie fort und schloss: Genau das sei das Problem. Diese „vereindeutigte“ Botschaft trage geradezu totalitäre Züge, sie fühle sich bedrängt, zu genau dieser einzigen zustimmenden Reaktion genötigt zu werden. Zu fortgeschrittener Stunde wurde dieser radikale Gedanke dann doch nicht mehr weitergesponnen, zum Beispiel mit der Frage, wie ein Werk beschaffen sein müsste, um der vermuteten Falle zu entgehen. Kurz: Was wäre eines Friedenspreises würdig, ohne sich allgemeiner Zustimmung sicher sein zu dürfen? Ist Salgado nicht bereits ein Preisträger in diesem Sinn? Sein Werk und seine Auszeichnung erfuhren nicht nur an diesem Abend deutlichen Widerspruch.
Warum weint man nicht bei der Betrachtung seiner Bilder, obwohl sie dazu doch vielfach Anlass geben müssten? Abschließend stellte Anja Schürmann diese Frage in den Raum. Interessant hieran war nicht zuletzt, dass die als Frage vorgetragene Behauptung keinen Widerspruch erfuhr, sondern stattdessen ausschließlich Erklärungen für das Ausbleiben der Tränen angeboten wurden – doch auch das mag dem fortgeschrittenen Abend und den bereits ausgetauschten Argumenten geschuldet gewesen sein. Schon bei ihrer ersten Konfrontation mit Salgados Bildern sei die „technische Präsenz“ so dominant gewesen, dass der Inhalt nicht mehr berührt habe, bemerkte Neudörfl. Ein Besucher wies auf die Archetypen hin, die Salgado uns durchweg zeige, vertraute, überzeitliche Figuren, auf deren Konfrontation uns unser Bildergedächtnis längst vorbereitet hat – und vor deren Wirkung wir uns zu schützen gelernt haben.
Mit offenen Fragen und mancher Meinungsverschiedenheit ging der Abend zu Ende. Auch hier gilt: Wie sollte es anders sein? Das strittige Werk bietet reichlich Anlass für Angriff und Verteidigung. Für das fotografische Vokabular und Urteilsvermögen der Anwesenden ist dieser Abend gewiss ein Gewinn.
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