„Æhm“ ist eine „Hæxx“, die sich aus der Zukunft in unsere Zeit materialisiert – und das geradewegs in eine Radiosendung. Gemeinsam mit allen Zuhörern will sie aus unserer Gegenwart heraus die Zukunft retten. Dies ist das Setting des Hörspiels „Hurly*Burly“, das das Team des Kölner Musiktheater-Labels Paradeiser entwickelt hat. Nicht zu schnell sollte man sich zu Anfang von den fantasievollen Wortschöpfungen abschrecken lassen: Man spreche sie zunächst einmal laut aus. Jeder Satz, in dem die Hexe angesprochen wird, scheint wortspielerisch nachdenklich zu beginnen. Es geht um die Gefährdung – oder Rettung – der Zukunft durch unser heutiges Handeln. Ein Thema, das über Achtsamkeit und durch Zuhören erfahrbar gemacht wird.
Das Hörspiel gibt es kostenlos über die Website auf die Ohren, doch Paradeiser hat sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur das Gehör anzusprechen. Geräusche, Musik, ja der Klang der ganzen Welt sollen mit allen Sinnen zugänglich werden. Dazu kann man sich das liebevoll gestaltete Booklet zu einem selbstbestimmbaren Preis (ab 3 Euro) bestellen und es während, vor oder nach dem Hören des Hörspiels bearbeiten. Ganz nach Art angesagter Bücher zum Bearbeiten und Zerfetzen warten die bunten Seiten auf Beteiligung der Leser. Und doch anders: Was genau eingetragen wird, darf ein jeder selbst entscheiden.
Spartenübergreifende Zusammenarbeit
„Wir wollen animieren, zu experimentieren“, erzählt Regisseurin Ruth Schultz im Videotelefonat. „In dieser Herausforderung darf alles okay sein: malen, schreiben, schneiden, es gibt keinen Zwang. Jedes Booklet wird dann innen ganz anders aussehen.“
Zur Gestaltung der 40 Seiten bieten sympathische Figuren und weltraumige Muster allerlei Anregung. Künstlerin Daniela Löbbert arbeitete dafür mit den Münsteraner Alexiana-Werkstätten zusammen.
Auch im Paradeiser-Team herrscht spartenübergreifendes Einander-ergänzen. Musiker Kai Niggemann spricht den/die (wie alle Figuren) geschlechtsneutrale, labelfreie Kylie und bringt Sounds, Beats und Loops ins Spiel. Katharina Sim spricht Moderator*in Door, arbeitet jedoch zugleich als Tänzerin und regt auch die Zuhörer zum Tanzen an. Sandra Reitmayer ergänzt Schultz‘ Regie um die Dramaturgie und Julie Stearns spricht die futuristische „Hæxx“ mit dem nahbaren britischen Akzent. Die Hörerschaft kann sich zeitlos per Handy in einer Telegramgruppe einklinken und mit dem Personal der gespielten Radiosendung eine „Band“ bilden.
Paradeiser produziert normalerweise illusionistisches Musiktheater und interaktive Stücke für Kinder, Erwachsene oder „Menschen ab 10 Jahren“. Mittlerweile wanderte die Arbeit von Bühnen wie der Comedia in die Zoomkonferenz. Das eigentliche, im März begonnene Projekt, das sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzen sollte, beinhaltete die Partizipation von bis zu 70 Kindern auf der Bühne. Ein heute nur noch im Kopf mögliches Projekt.
„Uns wurde klar, dass wir zum Winter besser ein Hörspiel machen“, so Ruth Schultz. „Mit Sounds haben wir die Arbeit begonnen und überlegt, wie wir den interaktiven Anspruch mit übernehmen können.“ Hinzu kamen Improvisationen in allen Theaterfächern.
Eine Wende zum Besseren
„Abgefahrene Sounds verbanden sich später mit Magie“, fährt Sound Artist Kai Niggemann fort. „Wir wollen helfen, sich reinzuhören in eine neue musikalische Welt – es ist spannend, wie viel Musik und Rhythmus eigentlich in unserer Welt sind.“
Hinzu kam das Prinzip Zufall. „Es war ein so großes Thema, dass man es eh nicht in seiner Gänze gegriffen hätte“, erzählt Ruth Schultz. „Wir haben dann auch ein Buch-Orakel verwendet: eine Seite aufgeschlagen und willkürlich auf ein Wort getippt.“ So haben sich die Kreativen inspirieren lassen.
Mit der Magie und „magischen Vorgängen“ setzt sich die Regisseurin jedoch auch schon länger auseinander: „Ich labele es nur anders“, verrät sie. „Zum Beispiel ‚Achtsamkeit‘. Aber wir erzählen ein Märchen, und gerade Kinder haben da die Freiheit, es Magie zu nennen.“ Im Booklet wird unter anderem erklärt, wie man ein „Sigil“ erstellen kann; ein mit Magie aufgeladenes persönliches Zeichen. Zudem wurde der Titel einer Passage von den Hexen aus „Macbeth“ übernommen.
Kinder sind ein gutes Publikum für Märchen. Doch „Hurly*Burly“ richtet sich nicht nur an die Kleinen, sonders eben an „Menschen ab 10“. Mit diesem bunten und vielfältigen Werk können auch 70-Jährige ihren Spaß haben. „Zwischen ‚für Kinder‘ und ‚für Erwachsene‘ unterscheiden wir nicht“, so Schultz.
Und kann nicht jeder von ein wenig Achtsamkeit, aufmerksamem Zuhören und Fantasie – eben Magie – profitieren? Das Premierendatum lag auf der Wintersonnenwende, was sich laut Produzenten auch als „Message“ des Projekts verstehen lässt: „Die Wende zu etwas Besserem.“
Hurly*Burly | Radiomärchen ab 10 J. | R: Ruth Schultz | Booklet ab 3 €, Hörspiel kostenlos | hurlyburly.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Angst
Beobachtung eines Kritikers im Kindertheater – Bühne 02/23
Fantasia liegt nicht im Internet
Die Weihnachts-Kinderstücke an den Ruhr-Theatern – Prolog 11/13
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
Das gab es noch nie
Urbanatix im Dezember wieder in Essen – Bühne 10/24
Die Zwänge der Familie
„Antigone“ in Duisburg – Prolog 09/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Jenseits von Stereotypen
„We Love 2 Raqs“ in Dortmund – Tanz an der Ruhr 09/24
Wüste des Vergessens
„Utopia“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/24
„Das Publikum braucht keine Wanderschuhe“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Ein Sommernachtstraum“ am Schlosstheater Moers – Premiere 09/24
Künstlerisches (Ver-)Lernen
Das Favoriten Festival 2024 in Dortmund – Prolog 08/24
Gegenwart einer Gegenkultur
„Pump Into The Future Ball“ in der Jahrhunderthalle Bochum – Tanz an der Ruhr 08/24
Das Trotzen eines Unglücks
Die neue Spielzeit der Stadttheater im Ruhrgebiet – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 07/24
Keine Spur von Rechtsruck
Die Ruhrtriennale 2024 in Bochum, Duisburg und Essen – Prolog 07/24