So bieder das Thema klingt, so vielschichtig ist es doch. Das Kunstmuseum in der Alten Post zeigt derzeit Bilder, die das Kind in den Mittelpunkt stellen, aus der Zeit vom späten 19. bis frühen 20. Jahrhundert: „Von Beckmann bis Zille“, wie es im Untertitel heißt. Die Ausstellung der im Haus beheimateten Stiftung Sammlung Ziegler umfasst mittlere bis kleine Formate, darunter vor allem Zeichnungen und Grafiken, aber auch Malerei und einige Fotografien. Sie stammen von den bekanntesten Künstlern aus Deutschland, zusammengestellt eben aus der Sammlung Ziegler und dem Bestand des Kunstmuseum Mülheim und nur um wenige Leihgaben ergänzt.
Was in dichter Präsentation in sechs Sälen im ersten Obergeschoss zu sehen ist, demonstriert eindrucksvoll, wie differenziert sich die Künstler ihrem Thema zugewandt haben. In der Ausstellung kommt das Kind in verschiedenen Lebensstufen und unterschiedlichen Milieus vor. Mitunter steht es stellvertretend für die Existenz des Menschen, und sofort relativiert sich jede vorschnelle Einordnung ins Liebe, Harmlose. Das wird besonders bei den düsteren Kohlezeichnungen von Otto Pankok deutlich. In monumental wirkender Intensität ist das Kind bilddominant im Vordergrund und doch fragil in das Interieur eingebunden. Bei anderen Künstlern liegt das Kleinkind behütet im Arm der Mutter oder räkelt sich in fast blöder Unschuld massig auf einer Matte. Meist handelt es sich um konkrete Porträts – etwa des eigenen Kindes –, daneben gibt es Bildnisse zu sehen, die als Charakterstudien auf Allgemeingültigkeit zielen, und Gruppen mit Kindern, bei denen die Umgebung auf die Lebensumstände hinweist. Das ist etwa bei den Grafiken von Heinrich Zille der Fall, die auf illustrierende Klarheit zielen.
Aber die Zeiten des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs des frühen 20. Jahrhunderts sind auch die Zeiten der Avantgarde in der Malerei. Die stilistische Vielfalt zwischen Realismus, Impressionismus und Expressionismus ist ein weiterer Aspekt der Ausstellung. Eindrucksvoll sind die beiden Gemälde von August Macke, die eine Frau stickend im Sessel (und ausnahmsweise ohne Kind) bzw. mit dem Kleinkind im Arm zeigen. In ihrer flächigen Einfachheit verschmelzen die Figuren zur Einheit. Sinngebend werden die Farben, die mit ihren komplementären Flächen die Figuren zur stillen Größe hin abstrahieren. Neben Macke und seinem Freund Franz Marc sind weitere Künstler aus dem Umfeld des Almanachs „Blauer Reiter“ dabei, besonders Alexej von Jawlensky und Paul Klee. Mit deren herausragenden Bildern löst sich die Ausstellung vom eigentlichen Thema zugunsten grandioser Kunst, etwa mit Klees lichtdurchflutetem „Garten in der Ebene“ (1920) und dem zur Kinderzeichnung abstrahierten Bild „Mumom als Braut“ (1938) oder Jawlenskys „Infantin“ (1912). Hinzu kommt Max Ernst mit seinem nuanciert blauen „L'intérieur de la vue: l'oeuf“ (1929) und Werner Gilles mit „Frau Freundlich“ (1921) mit ihren aufmerksam blickenden blauen Augen.
Überhaupt die Augen: Ihnen ist ein eigenes Kapitel der Ausstellung gewidmet. Die Kinder nehmen Kontakt zum Betrachter auf und geben über den Blick ihre Persönlichkeit zu erkennen. Oder die Augen sind im Schlummer geschlossen, wie bei Adolf Menzels „Schlafendem Kind“ von 1850, dem frühesten Bild der Ausstellung. Rein mit Schraffuren und wenigen Linien ist das Kind in den Bildgrund eingelagert, als befände es sich tief in den Kissen und Decken eines Bettes. Noch im Schlaf nimmt dieses Kind am Leben teil als eigenständig denkendes – träumendes – Wesen. Hingegen fokussieren die grafischen Blätter von Zille, Otto Dix oder Käthe Kollwitz primär soziale Fragestellungen in Zeiten des Weltkriegs und gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, besonders in Berlin. Sie weisen auf die Rolle des Kindes als schwächstem Glied der Gesellschaft und auf die Prägungen der Familie, die diesem, mitunter an der Schwelle zum Erwachsensein, mitgegeben werden. Und dann ist die Ausstellung mit einem Mal sehr aktuell.
Das Kind in der Kunst | bis 1.7. | Stiftung Sammlung Ziegler im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr | 0208 455 41 38
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