Jörg Winde lässt in seine Fotografien eintreten. Die Kacheln oder die Tapete mit ihren Verzierungen oder die karge oder gerasterte Wand vor Augen, den Boden noch unter den Füßen, nähern wir uns dem Inneren der Räume und bleiben doch auf Abstand. Mit der überschauenden Perspektive seiner Farbfotografien blickt der Dortmunder Künstler auf Orte, Gegenstände und Geschichten, die ansonsten übersehen werden.
Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund ist jetzt eine konzentrierte Ausstellung zum 1956 geborenen Industrie- und Architekturfotografen zu sehen. Äußerer Anlass ist, dass Winde als Professor für Fotografie an der Fachhochschule Dortmund nach 25 Jahren in den Ruhestand geht. Innere Notwendigkeit ist der Hinweis auf sein Lebenswerk und dessen Bedeutung – und dass etliche der Themen und Fragen, die er anreißt, nach wie vor aktuell sind. Er befragt die Veränderung des Wohnlichen, den Umgang mit Erinnerung und die Überflutung mit Reizen. Er legt architektonische Konzepte frei, arbeitet die Funktion heraus, hinterfragt im Allgemeinen und im Besonderen, wie wir uns in der Zivilisation wiederfinden und was die architektonischen Realräume von digitalen Konstrukten unterscheidet. Wie sich Objektivität und Subjektivität begegnen und welche Rolle Farbigkeit und Licht, Distanz und Nähe für das Wohlbefinden und die Erinnerung spielen.
Ausgestellt sind fotografische Bilder aus zwölf Werkgruppen, entstanden in vier Jahrzehnten. Verbindend ist das Interesse für Räume, die meist schon ihre beste Zeit hinter sich haben, aber die Erinnerung an ihren einstigen oder gegenwärtigen Gebrauch konservieren. Meist sind die Menschen abwesend. Der Ausschnitt mit der Wand, dem Boden und den Raumkanten verstärkt den Eindruck des Abgeschlossenen und nun „Versiegelten“. Mitunter vermitteln farbiges Licht, das den Raum erfüllt, und der Abstand der Kamera zur eigentlichen Szenerie den Eindruck des Schweigend-Monumentalen, der sich vom Dienenden hin zur reinen Ästhetik wandelt. Das betrifft besonders die industriellen Spritzkabinen der Werkgruppe „Farbräume“ (1995-2022). Bei der Dokumentation einer Gummistiefelfabrik (2005-2007) zeigt sich Windes große Stärke, das Dokumentarische ins Geheimnisvolle zu wenden und doch die authentische Aura wiederzugeben.
Die Strategie, sich über den Boden langsam in den Raum vorzutasten, zeichnet auch die grandiose Folge der Bürgermeisterzimmer (2005-2012) aus. Winde arbeitet ihre Bandbreite und die Gemeinsamkeiten mit dem Zwiespalt der Repräsentanz und dem Durchschimmern des privaten Arbeitszimmers heraus. Plötzlich interagieren die zeitgenössischen Skulpturen und Bilder an der Wand mit den Kronleuchtern und der Büroeinrichtung. Ganz anders ist die Wohnung einer Frau eingerichtet, die hier viele Jahrzehnte gelebt hat, in der frühen Bildserie „Tante Änne“ (1992-1994). Alles ist an seinem Platz, unberührt von Moden. Sensibel, in lakonischen Ausschnitten, hebt Jörg Winde die Ordnung im Raum und an den Wänden hervor, schafft Platz für Erinnerung und das Privat-Einzigartige im Allgemeinen: In einem Moment der Leere füllt er die Orte als Zeitzeugnisse wieder mit Leben.
Jörg Winde – In Räumen | bis 23.2. | Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund | 0231 502 60 28
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