Can Dündar vergleicht sich in seinem Buch „Verräter“ mit dem verwirrten Gregor Samsa: als er eines Tages im deutschen Exil in Berlin aufwachte, in einem fremden Haus, fern von seiner geliebten Heimat, fern von seiner Frau. Dündar war Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet bis er – wie das guter Journalismus eben verlangt – im Jahre 2015 einmal zu oft die Wahrheit schrieb: dass nämlich die Türkei unter Erdoğan bzw. deren Geheimdienst MIT Syrien mit Waffen beliefert. Dündar hatte Bild- und Filmmaterial veröffentlicht. Das Ganze war ein längst offenes Geheimnis, doch auch die Aufdeckung offener Geheimnisse (die man auch Staatsgeheimnisse nennt) wird mit zweimal lebenslänglich bestraft. Nach Gefängnis, einem überlebten Attentat und dem Titel Landesverräter ging Dündar nach Deutschland ins Exil, in der Hoffnung, so bald wie möglich zurück in eine freie, demokratische Türkei zu gehen. Also eine Türkei ohne Präsident Erdoğan.
Im CORRECT!V Buchladen des journalistischen Recherchezentrums CORRECTIV in Essen ist Dündar zu einer türkisch-deutschsprachigen Lesung seines Buches „Verräter“ eingeladen worden. Geschäftsführer David Schraven und ein Übersetzer sitzen zusammen an einem Tisch. Zwei Ausschnitte des Buches werden sowohl auf Türkisch als auch Deutsch vorgelesen; nach jedem Ausschnitt wird die Diskussion für das Publikum eröffnet mit Fragen zu Dündars An- und Aussichten zur politischen Lage in der Türkei und seinem Leben im Exil.
Zuerst geht es um die Trennung der Frau. Wo ist sie denn? Humorvoll sagt Dündar, sie habe ihn noch nicht satt, aber am Flughafen sei noch vor der Ausreise ohne Begründung ihr Reisepass von der Regierung konfisziert worden. Das war 2016, vor gut eineinhalb Jahren. Seitdem ist sie eine Geisel in einem angeblich freien Land. Sie kann nicht nach Deutschland, er kann unter der Diktatur Erdoğans nicht zurück in die Türkei, solange ihm eine Strafe droht.
Der Präsident, der zu große Paläste errichten, aber Denkmäler der Menschlichkeit abreißen lässt, für den das Ehrvollste der Märtyrertod sei und der die Türkei ihrer Meinungs- und Pressefreiheit beraubt, um sein islamofaschistisches Regime zu führen. Dündar fragt, wer nun der wahre Landesverräter sei.
Auch sieht er Bezüge zu Deutschland, wo vor nicht allzu langer Zeit auch ein megalomaner Diktator an der Macht war. Und bei der türkischen Diaspora in Deutschland beobachtet er eine Polarisierung zwischen pro- und anti- Erdoğan, die sich hier genauso wiederspiegelt wie in der Türkei. Doch die Türkei sei eine Sache, Erdogan eine andere, und da er die erste liebe, müsste man sie von der zweiten befreien. Doch die Liebe zum eigenen Land, bezahlte er mit einem hohen Preis.
„Verräter“ ist nicht nur eine Beschreibung der prekären politischen Situation in der Türkei und dem Prozess gegen Dündar, sondern auch eine Identitätssuche als Exilant in einem fremden Land ohne Haus, Frau, Freunde und Arbeit. Und das niemals verbittert, sondern mit einer gesunden Portion Humor. Dündar erzählt vom Leben in Deutschland, z.B. der deutschen Pünktlichkeit, wenn man zu einschüchternden Uhrzeiten wie 13:18 Uhr beim Bürgeramt antreten muss. Wer würde es wagen, sich bei dieser Zeit zu verspäten? Doch vor allem geht es um die Macht der Literatur. Während des Gefängnisaufenthalts las Dündar Stefan Zweigs Schachnovelle, während ein anderer Insasse nach einem bestimmten Autor fragte. In der Bibliothek sei er nicht vorhanden, aber er sitze in der Zelle nebenan.
Dündar sieht als Journalist und Schriftsteller die Notwendigkeit, gerade jetzt im Exil zu schreiben und aktiv zu sein. In der Türkei wurde angeordnet, seine Bücher aus den Buchhandlungen zu entfernen. Wie eine Zuschauerin verifiziert, werden die Bücher höchstens unter der Ladentheke oder in der hintersten Ecke verkauft. Hierzulande ist „Verräter“ in seiner deutschen Übersetzung frei erhältlich und mit David Schraven zusammen haben sie das deutsch-türkische Magazin Özgürüz ins Leben gerufen. Das ist ein weiterer Beweis für die guten deutsch-türkischen Beziehungen und den freien Journalismus, der Dündar in der Türkei untersagt wurde.
Am Ende bleibt die Hoffnung auf eine Rückkehr in eine freie Türkei, wobei derzeit die Zweifel an einer „Abdankung“ Erdoğans und nicht-gefälschten Wahlergebnissen überwiegen. Dündar hat Arbeit und Freunde in Deutschland und ironischerweise wurde er durch sein Exil beschenkt, denn er wurde zur politischen Stimme der Meinungsfreiheit und des Menschenrechts und sammelt weiterhin Sympathien. Exil ist nicht gleich Einsamkeit. Hier in Deutschland ist er nicht allein.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Virtuelle Radikalisierung
„Einsame Wölfe“ mit Florian Hartleb am 21.3. im Correctiv-Buchladen Essen – Literatur 03/19
Neue Strategien gegen rechte Erzählungen
Buchvorstellung „Mit Rechten reden“ im Correctiv-Buchladen in Essen – Literatur 06/18
Der Untergang der SPD 2017
Spiegel-Autor Markus Feldenkirchen las im Essener Correctiv-Buchladen aus seinem Buch "Die Schulz-Story" – Spezial 05/18
Mut gegen Ohnmacht
Nachwuchs-Filmemacherin Asli Özarslan zeigt „Dil Leyla“ im sweetSixteen – Foyer 06/17
Auf dem Weg zur Diktatur
Çiğdem Akyol über die Türkei unter Erdogan am 20.9. in der Auslandsgesellschaft NRW in Dortmund
Der letzte Weltfotograf
„Ara Güler. A Legend of Istanbul“ am 6.5. im Grillo Theater Essen – Foyer 05/16
Das Phänomen „Bruder Tayyip“ verstehen
Cigdem Akyol am 19. August in der Alten Druckerei Herne über Erdogan
Harter Stoff und guter Tobak
CORRECT!V-Reporter Bastian Schlange liest am 15.8. im Rottstr 5 Theater
Richtungsweisend
Wie sich Journalismus und grafisches Erzählen befruchten – ComicKultur 04/15
Mit Nazicomics in eine aufgeklärte Gesellschaft
Das Recherchebüro Correct!v stellt in der Zeche Carl sein Bookzine vor – Spezial 02/15
100 Jahre türkischer Film
Das Türkische Filmfest Ruhr zeigt neben neuen Filmen auch zwei Hommagen – Festival 05/14
Das Über-Du
Auftakt von Literaturdistrikt mit Dietmar Dath und Wolfgang M. Schmitt – 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Sprachloser Aufbruch
Philosoph Wolfram Eilenberger auf der Lit.Ruhr – Literatur 10/24
Mit Sörensen zum Eisbaden
Sven Stricker und Bjarne Mädel beim Festival „Mord am Hellweg“ – Literatur 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24