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Sprechen über Erdogan: Cigdem Akyol (vorne) und Michelle Müntefering
Foto: Dominik Lenze

Das Phänomen „Bruder Tayyip“ verstehen

22. August 2015

Cigdem Akyol am 19. August in der Alten Druckerei Herne über Erdogan

Erdogan hat in hiesigen Medien in etwa das Ansehen von Sauron, oder, schlimmer noch, Putin. Gleichzeitig feiern ihn auch hierzulande seine Anhänger wie einen Popstar – und ohne Grund hat ihn die Türkei auch nicht zum Ministerpräsidenten gewählt. „Die Türken wählen aber nicht einfach den, der am lautesten schreit“, sagt Cigdem Akyol. Aber auch: „Dieser Mann hat nicht nur autokratische Züge, er ist ein Autokrat.“ In ihrem Buch "Generation Erdogan" wagt die Türkei-Korrespondentin der österreichischen Presseagentur einen differenzierten Blick auf den starken Mann am Bosporus – am 19. August las sie in der Alten Druckerei in Herne und diskutierte mit dem Publikum und der Bundestagsabgeordneten Michelle Müntefering, die den Abend moderierte.

 

Zur Geschichte des starken Mannes, wie man sie von artverwandten Politikern wie Putin kennt, gehört es, dass der jetzige Staatsmannn in seinem Kern einer aus dem Volk ist, und es von ganz unten nach oben geschafft hat. Die Krux bei „Bruder Tayyip“, zu dem sich Erdogan in Wahlkämpfen stilisierte, ist: Tatsächlich fing der jetzige Staatspräsident der Türkei als Sohn eines Fischers an – nun ist er zum Menschenfänger geworden.

 

Was aber nicht vergessen werden darf: Es ist nicht nur die gute PR, die Erdogan dahin brachte, wo er jetzt ist. Als Bürgermeister von Istanbul, Ausgangspunkt seiner politischen Karriere, tat er auch viel Gutes und Sinnvolles für die Stadt: Er dezentralisierte das Kulturangebot, entschlackte die Bürokratie und unternahm auch etwas gegen die Luftverschmutzung in der Millionenmetropole zwischen Europa und Asien. Nicht umsonst entschied sich Akyol, als erste Passage aus ihrem Buch die über den Aufstieg Erdogans zu lesen: „Ich möchte ja auch seinen Erfolg erklären“, sagt sie.

 

Einigen aus dem Publikum gefällt das: „Danke, dass sie hier kein Erdogan-Bashing betrieben haben“, sagt ein Besucher nach der Lesung zu Akyol. Viele stören sich an der einseitigen Berichterstattung über den türkischen Staatschef. Doch so ausgewogen und nüchtern Akyol in ihrem Buch die Fakten und Zusammenhänge darlegt, so findet sie auch deutliche Worte über den heutigen „Bruder Tayyip“: „Er strebt keine Demokratie an – und das ist keine Kaffeesatz-Leserei, dafür muss man nur hören, was er sagt.“

 

„Wir leben in einem repressiven System“, sagte Erdogan – aber nur damals, als er noch ein rebellischer Jungpolitiker war, und sich gegen die laizistischen Kemalisten stellte. Er wurde damals gar seines Amtes enthoben und verhaftet, und – Ironie der Geschichte – sogar Amnesty International kümmerte sich um den Fall. Ein Amnesty-Mitarbeiter war auch am Abend in der Alten Druckerei vor Ort. Der findet, dass die Berichterstattung heutzutage Erdogan wirklich gerecht wird. „Aber Akyol bleibt dabei: „Einseitige Berichterstattung ist nicht richtig.“

 

Vielleicht hat sich der eine oder andere harte Statements gegen Erdogan gewünscht, eine klare Linie gegen diese Alternative zu unserer Vorstellung von Demokratie, ein Plädoyer gegen das Konzept des starken Mannes. Mit Akyol ist das nicht zu haben: „Ich bin nicht hier, um zu hetzen“, sagt die journalistin. Und so verlässt man den Abend in dem Bewusstsein, dass man doch viel weniger weiß, als man zunächst glaubte – und das ist wertvoll.

Dominik Lenze

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