Vom „Gottkanzler“ und 100-Prozent-Parteivorsitzenden zum gescheiterten Bundestags-Wahlkämpfer, der ein historisch schlechtes Ergebnis der SPD verantworten musste – Martin Schulz erlebte innerhalb nicht einmal eines Jahres eine emotionale Achterbahnfahrt. Einer, der den Politiker dabei ganz nah begleiten konnte, war der Spiegel-Redakteur Markus Feldenkirchen. Er las im Essener Correctiv-Buchladen aus seinem Buch „Die Schulz Story“ und diskutierte, moderiert von David Schraven, mit den rund 40 Anwesenden über seine Schilderungen, die mitunter tragikomische Züge tragen.
Ausführlich beschreibt Feldenkirchen in seinem Buch etwa eine Szene, in der sich Schulz ins Tonstudio zwingen lässt, um einen TV-Spot für den Wahlkampf nachzubearbeiten. Der Grund: In der ersten Version des Films hat er das Wort „manche“ mit rheinischer Färbung („mansche“) ausgesprochen. „Er hat das zugelassen, obwohl er es selbst unsinnig fand“, kommentierte Feldenkirchen in Essen. Einmal mehr habe sich Schulz zu stark von seinem Umfeld beeinflussen lassen. „Nicht autoritär genug“, sei der Kanzlerkandidat und SPD-Vorsitzende im Umgang mit seinen Beratern und Parteigenossen gewesen. Dies gelte auch im Hinblick auf die Entscheidung, sich im Wahlkampf nicht vorrangig als erfahrener Europapolitiker zu positionieren, sondern als ehemaliger Bürgermeister von Würselen, der die Sprache der einfachen Leute spreche. „Er wurde verzwergt, über ihn wurde eine Würselen-Sauce ausgegossen“, kommentierte Feldenkirchen. Damit sei aber die falsche Tonlage getroffen worden. „Die Bürger finden es schon gut, wenn jemand auf sie eingeht, wünschen sich aber auch jemanden, zu dem sie aufschauen können und der das Land nach außen gut repräsentiert.“
Der Spiegel-Journalist trat meinungsstark auf und äußerte sich pointiert, betonte aber auch, dass er keineswegs als Besserwisser auftreten wolle. „Ich will sicherlich nicht sagen, dass ich im März 2017 schon den Stein der Weisen gefunden hatte“, so Feldenkirchen, „allerdings hatten ihn diejenigen, die Schulz beraten haben, auch nicht.“ Bei den Fragen des Publikums im Correctiv-Café standen die Person Martin Schulz und Feldenkirchens Erfahrungen aus seinen zahlreichen Begegnungen mit ihm im Vordergrund. Mitunter ging es aber auch um allgemeine Beobachtungen: „Warum ist die Politik so mutlos geworden?“, fragte eine Besucherin. Feldenkirchen ging in seiner Antwort unter anderem auf die immer stärkere Bedeutung von Meinungsforschung ein, die vor 30 Jahren noch technisch aufwendiger gewesen und daher deutlich seltener eingesetzt worden sei. „Heute wird jeder einzelne Scheiß vorher getestet – einfach, weil man es kann“, sagte der Journalist. Sein Buch über Martin Schulz sei „eine Blaupause dafür, wie man auch mit dem Glauben an Demoskopie eine Bruchlandung hinlegen kann.“
Bei aller Kritik ließ Feldenkirchen in seiner Darstellung immer wieder auch Respekt vor der Person Martin Schulz durchklingen, der die Recherche-Besuche des Journalisten bis zum bitteren Ende zugelassen habe. „Was ich ihm hoch anrechne, ist die Tatsache, dass er nicht im August vor der Bundestagswahl zu mir gesagt hat: ,Herr Feldenkirchen, lassen wir das mal lieber.‘“ Selbst nach der verlorenen Wahl habe er Schulz weiterhin motiviert erlebt. Der damals noch SPD-Vorsitzende habe Ideen für Antikapitalismus-Debatten entwickelt, die er aus der Opposition anstoßen wollte. Dann jedoch folgte der Gang in die große Koalition, die Schulz lange Zeit kategorisch ausgeschlossen hatte. „Sein größter Fehler war es, die Kehrtwende nach der Wahl mitzumachen“, so Feldenkirchen, „danach hat der den Kompass verloren.“
Das Scheitern von Martin Schulz bei der Bundestagswahl lasse sich letztlich nicht nur auf eine Ursache zurückführen, kommentierte der Spiegel-Redakteur. „In meinem Buch beschreibe ich viele Aspekte, die dazu beigetragen haben.“ Nicht zuletzt müsse man auch die Gesamtentwicklung der deutschen SPD betrachten, deren Wählerpotenzial zuletzt drastisch abgenommen habe. „Es gibt sogar die These, dass Schulz die SPD noch über ihrem realen Marktwert ins Ziel gebracht hat“, erklärte Markus Feldenkirchen, „ich selbst möchte auch erst einmal den Kandidaten sehen, der wieder auf 35 Prozent kommt.“
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Virtuelle Radikalisierung
„Einsame Wölfe“ mit Florian Hartleb am 21.3. im Correctiv-Buchladen Essen – Literatur 03/19
Neue Strategien gegen rechte Erzählungen
Buchvorstellung „Mit Rechten reden“ im Correctiv-Buchladen in Essen – Literatur 06/18
Die Verwandlung
Can Dündar liest am 27.03.2018 aus seinem Buch „Verräter“ im CORRECTIV-Buchladen in Essen – Literatur 04/18
Harter Stoff und guter Tobak
CORRECT!V-Reporter Bastian Schlange liest am 15.8. im Rottstr 5 Theater
Richtungsweisend
Wie sich Journalismus und grafisches Erzählen befruchten – ComicKultur 04/15
Mit Nazicomics in eine aufgeklärte Gesellschaft
Das Recherchebüro Correct!v stellt in der Zeche Carl sein Bookzine vor – Spezial 02/15
Was erreicht worden ist
Warum Nostalgie auch in die Zukunft weist – Spezial 01/25
Ehrung für ein Ruhrgebiets-Quartett
Verleihung des Brost-Ruhr-Preises 2024 in Bochum – Spezial 11/24
Klimaschutz = Menschenschutz
„Menschenrechte in der Klimakrise“ in Bochum – Spezial 11/24
Digitalisierung 2.0
Vortrag über KI in der VHS Essen – Spezial 10/24
Minimal bis crossmedial
Rekorde und Trends auf der Spiel Essen – Spezial 10/24
KI, eine monströse Muse
12. Kulturkonferenz Ruhr in Essen – Spezial 09/24
Wurzeln des Rechtsextremismus
Online-Vortrag „Ist die extreme Rechte noch zu stoppen?“ – Spezial 09/24
Wem gehört die Ökosphäre?
Seminar „Die Rechte der Natur“ in der VHS Dortmund – Spezial 05/24
Stimmen der Betroffenen
Vortrag über Israel und Nahost in Bochum – Spezial 04/24
Außerhalb der Volksgemeinschaft
Vortrag über die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit in Dortmund – Spezial 04/24
„Ruhrgebietsstory, die nicht von Zechen handelt“
Lisa Roy über ihren Debütroman und das soziale Gefälle in der Region – Über Tage 04/24
Unterschiedliche Erzählungen
Vortrag zur Geschichte des Nahostkonflikts in Bochum – Spezial 03/24
„Was im Ruhrgebiet passiert, steht im globalen Zusammenhang“
Die Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken über den Strukturwandel – Über Tage 03/24
Geschichte der Ausbeutung
„Wie Europa Afrika unterentwickelte“ im Bochumer Bahnhof Langendreer – Spezial 02/24
„Einer muss ja in Oberhausen das Licht ausmachen“
Fußballfunktionär Hajo Sommers über Missstände im Ruhrgebiet – Über Tage 02/24
„Mir sind die Schattenseiten deutlicher aufgefallen“
Nora Bossongüber ihre Tätigkeit als Metropolenschreiberin Ruhr – Über Tage 01/24
„Hip-Hop hat im Ruhrgebiet eine höhere Erreichbarkeit als Theater“
Zekai Fenerci von Pottporus über Urbane Kultur in der Region – Über Tage 12/23
Suche nach Klimastrategien
Gespräch im Essener LeseRaum Akazienallee – Spezial 11/23
„Das Ruhrgebiet erscheint mir wie ein Brennglas der deutschen Verhältnisse“
Regisseur Benjamin Reding über das Ruhrgebiet als Drehort – Über Tage 11/23