Dortmund, 29. Juni – Die 26-jähige Leyla Imret wurde in Cizre mit einem Rekordergebnis zur jüngsten Bürgermeisterin der Türkei gewählt. Die Filmstudentin Asli Özarslan interessiert sich für diese Frau, als sie aus der Presse von dieser Geschichte hört. Sie ist erstaunt darüber, dass Leyla ihr Leben in Deutschland nach über 20 Jahren aufgibt und fragt sich, was sie motiviert, in das Krisengebiet tief im Osten der Türkei zurückzukehren. Mit ihrem Dokumentarfilm „Dil Leyla“ gelingt Özarslan ein kluges, einfühlsames Portrait, das so viele wichtige Themen berührt, dass man ihr nur dankbar sein kann für diese engagierte Arbeit. Im sweetSixteen Kino erzählt sie im Filmgespräch über die Hintergründe und die unvorhergesehene dramatische Wendung im Laufe dieses Filmprojekts. Ebenfalls zu Gast ist Ali Sirin von „Planerladen e.V.“, der den Filmabend zusammen mit dem sweetSixteen organisiert hat.
„Dil Leyla“ beginnt mit einem Akt der Gewalt. Amateuraufnahmen aus dem Jahr 1993: Panzer des türkischen Militärs rollen ein in die mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt an der syrisch-irakischen Grenze. Zu Beginn der Dreharbeiten im Jahr 2015 herrscht ein fragiler Waffenstillstand zwischen den kurdischen Kämpfern der PKK und der türkischen Regierung. Die Stimmung sei dort euphorisch gewesen, das Drehteam habe sich frei bewegen können, erzählt Özarslan und begleitet Leyla Imret, die sympathische, junge Bürgermeisterin in ihrem Alltag. Sie hält Reden, empfängt Leute, kümmert sich um die Belange der Stadt: Parkanlagen werden geplant, Bäume gepflanzt, das kurdische Nationalbewusstsein gepflegt. Der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt hat die Leute in Cizre kriegsmüde gemacht. Sie wünschen sich jetzt ein gutes, modernes Schlachthaus, die Renovierung des Markts, und Leyla Imret packt das an. Ihre Mutter ist von diesem Engagement gar nicht begeistert. Sie hat die traumatische Vergangenheit nicht verarbeitet, traut dem Frieden nicht und würde die Tochter viel lieber sicher wissen in Bremen bei der Tante und den Cousins. Dorthin hatte man die fünfjährige Leyla vor vielen Jahren gebracht als der Krieg eskalierte, sie selbst Folter erleiden musste, der Mann als Kommandant der PKK bei einem Gefecht erschossen wurde. Sensibel verfolgen Özarslan und ihre Kamerafrau Carina Neubohn familiäre Szenen sowohl in Bremen als auch in Cizre, die uns die tiefen Gefühle von Sorge, Angst, Pflichterfüllung, Identitätssuche, Kraft spüren lassen.
Derweil nimmt der politische Konflikt in der Türkei Fahrt auf. Bereits nach den Parlamentswahlen, die ein fabelhaftes Ergebnis für die kurdische Partei HDP und für Leyla Imret bringen, macht sich in Cizre Nervosität breit. Dann folgt die wütende Reaktion der herrschenden Staatsmacht. Leyla Imret wird als Bürgermeisterin abgesetzt und mit Klagen wegen Volksverhetzung überzogen. Cizre wird zum Kriegsschauplatz, es herrscht Ausgangssperre. Die Stadt wird monatelang vom türkischen Militär belagert und massiv zerstört. Über 300 Menschen sterben. Für die türkische Regierung sind das Terroristen. Asli Özarlan betont, dass hier Zivilisten ihr Leben verloren haben: Frauen, Kinder, Alte. Und obwohl dieses Sterben dokumentiert ist, es Namenslisten der Opfer gäbe, herrscht in Deutschland überwiegend Ahnungslosigkeit über die dramatischen Zustände, stellt Özarslan verwundert in den Gesprächen mit dem Publikum fest. Immer weiter verstetige sich dieser kriegerische Kampf in der Türkei, und weder Deutschland noch die EU intervenierten nennenswert. Die letzte Drehreise unternimmt Özarslan ohne ihr Team mit einer europäischen Delegation, dann bricht der Kontakt zu Leyla Imret ab. Nur ihre Familie in Bremen, die verdammt ist, voller Sorge zu warten und zu hoffen, ist noch erreichbar. Leyla Imret hat den Film „Dil Leyla“ noch nicht gesehen. Sie harrt nach wie vor in Cizre aus.
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