Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
25 26 27 28 29 30 1
2 3 4 5 6 7 8

12.581 Beiträge zu
3.810 Filmen im Forum

Rüdiger Schmidt-Sodingen

Cannes kann

30. Mai 2023

Neue Werke von Hausner und Glazer an der Croisette – Vorspann 06/23

Die Filmfestivals stehen in voller Blüte. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass die Hoch-Zeit der Serien nun doch überschritten ist. Anbieter wie Amazon Prime geben bereits zu, dass sich das Zuhause-Publikum am Freitag- oder Samstagabend nach einer kompakten 90- oder 120-Minuten-Geschichte sehnt – und nicht mehr nach Endlos-Stories, die Folge um Folge neue Pirouetten drehen und kein Ende finden.

So gesehen stehen die großen Streaming-Dienste vor den gleichen Herausforderungen wie die Kinos. Beide suchen gute Spiel- oder Dokumentarfilme, die das Publikum begeistern und sich, wenn möglich, gleich in mehreren Ländern und über längere Zeit auswerten lassen.

Zwei Höhepunkte des diesjährigen Cannes-Festivals lassen für die Kinos jedenfalls schon mal Gutes erahnen. In Jessica Hausners „Club Zero“, den man als perfekte Ergänzung zu Ilker Çataks Lola-Gewinner „Das Lehrerzimmer“ sehen kann, checkt eine neue Lehrerin namens Miss Novak, gespielt von Mia Wasikowska, an einem Elite-Internat ein, um die Schützlinge zu einem bewussteren Essen zu erziehen. Was sich zunächst wie ein netter Ratschlag anhört, wird allerdings bald zur Religion erhoben: Das Weniger-Essen wird zur Lebensphilosophie, zum radikalen Lerninhalt, der von den Schülerinnen und Schülern möglichst umfassend umgesetzt werden soll. Hausner nutzt ihren grandios ausgestatteten Film, um eine bessere Gesellschaft zu zeigen, die zwischen betonierten Eltern-Egos und -Häusern längst die Richtung und die Kinder verloren hat. Großartig webt der Film den einseitigen Meinungs- und Desinformations-Wahnsinn des Internets in ein widerborstiges Schuldrama um, in dem das Lehrpersonal zu kriegerischen Influencern mutiert ist.

Auch Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ macht sichtbar, was ansonsten nicht sichtbar war oder ist. Basierend auf der gleichnamigen Geschichte von Martin Amis, bebildert Glazer das vermeintlich normale Familienleben des KZ-Lagerkommandanten Rudolf Höss und seiner Frau Hedwig, gespielt von Christian Friedel und Sandra Hüller. Während nebenan, im Konzentrationslager Auschwitz, die Schornsteine rauchen und die Mordmaschinerie auf Hochtouren läuft, spielen die Kinder, liest der Vater Gute-Nacht-Geschichten vor und pflegt Mutti ihre Blumen. In die falsche Idylle platzen mitunter ein paar Schrei- oder Schusslaute, während Höss in Uniform den Bau neuer Krematorien bespricht und seine Frau in ihrem „Traumhaus“, wie sie es einmal nennt, „frische Wäsche“ sortiert, als ihr Mann nach Berlin versetzt werden soll. Ein unfassbares Kammerspiel über eine „Monster Family“ am Rande des Holocaust.

Beide Filme werden noch für einigen Gesprächsstoff sorgen. Auch deswegen, weil sie eine zentrale Qualität des Kinos offenbaren: Für einen genauen Blick auf das Leben braucht es Zeit – und den Mut, genau hinzusehen. Henry Miller schrieb einmal: „Alles, vor dem wir unsere Augen verschließen, wird schließlich zu unserer Niederlage beitragen.“

Rüdiger Schmidt-Sodingen

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Vaiana 2

Lesen Sie dazu auch:

Besuchen Sie Europa
Die Studie Made in Europe und ihre Folgen – Vorspann 12/24

Filmfestivalmonat November
Mit der Duisburger Filmwoche, Doxs! und dem Blicke – Filmfestival des Ruhrgebiets – Vorspann 11/24

Reise in die Seele des Kinos
Die Ausstellung „Glückauf – Film ab“ in Essen – Vorspann 10/24

Programmkollaps
Vergraulen immer komplexere Kinoprogramme das Publikum? – Vorspann 09/24

Zurück zum Film
Open-Air-Kinos von Duisburg bis Dortmund – Vorspann 08/24

„Poor Things“, reiches Cannes
Eine Bilanz der ersten sechs Kinomonate – Vorspann 07/24

Ewige Stadt, ewiges Kino
In Rom werden aus alten verlassenen Kinos wieder Kinos – Vorspann 06/24

Der Kurzfilm im Rampenlicht
Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2024 – Vorspann 05/24

„Viel Spaß beim Film“
Vom Ende der Platzanweiser:innen – Vorspann 04/24

Was läuft im Kino?
Über die Programmierkunst echter und gespielter Helden – Vorspann 03/24

Prognose: Lachstürme
Die Komödie findet endlich ins Kino zurück – Vorspann 02/24

Emanzipation und Alltag
Starke Protagonistinnen im Januar – Vorspann 01/24

Film.

Hier erscheint die Aufforderung!