Nein, die Idee kam nicht von einem gewissen Herrn Blaumilch. Jene Figur aus einer Komödie von Ephraim Kishon war ein Geisteskranker, der mitten auf der Hauptverkehrsader einer Großstadt anfing, mit einem Presslufthammer die Straße aufzureißen. Weil im Behördendschungel niemand für die Baustelle verantwortlich war, musste schnell gehandelt werden. Als Ergebnis des Gerangels um Zuständigkeiten entstand der Blaumilchkanal, der die Stadt um eine großartige Attraktion bereicherte. In Dortmund wäre eine solche Geschichte undenkbar. Das Rathaus ist viel zu gut durchstrukturiert, jede Hand weiß, was die andere tut, und außerdem haben psychisch labile Menschen hier keinen Zugang zu einem Presslufthammer. Als die ersten Pläne für den PHOENIX See veröffentlicht wurden, hielten manche Bürger trotzdem diese zunächst für einen Scherz. Den Stadtteil Hörde, in dem das Naherholungsgebiet entstehen sollte, verband man mit Rauch, Ruß und Feuer, nicht mit Tretbootfahren an Sonntagnachmittagen. Inzwischen ist die ehemalige Grube geflutet und an den Ufern des neu entstandenen Sees herrscht rege Bautätigkeit. Die Spötter sind verstummt. Tatsächlich haben die Planer der Stadtverwaltung eine Mammutaufgabe gestemmt. Vor zehn Jahren noch teilte das Stahlwerk Hörde in zwei Hälften. Wie alle großen Fabrikanlagen war auch das Gelände von Phoenix für Normalbürger eine No-Go-Area. Werksmauern trennten die Draußen- von der Drinnenwelt. Selbst, als die Hermannshütte demontiert und nach China verkauft wurde, war das Gelände zunächst gesperrt. Industriebrachen bergen viele Gefahren. Erst durch die Neunutzung konnte der Stadtteil im vergangenen Jahr wieder zusammenwachsen, die Menschen Zugang zu der über 200 Hektar großen Fläche bekommen, der ihnen über 150 Jahre verwehrt war.
Kein Wachdienst wird die Villen am See vor dem Prekariat schützen müssen
Natürlich wird das PHOENIX Areal zunächst einmal wie ein Fremdkörper im alten von der Montanindustrie geprägten Stadtteil erscheinen. Statt Stahlkocher werden Ingenieure in dem westlichen Teil des Geländes sich verdingen. Statt Essen aus dem Henkelmann gibt es das Notebook aus der Aktentasche und dazu einen Coffee to go. Dass der vielgepriesene Strukturwandel allerdings ohne Brüche und Verwerfungen auskommt, ist sowieso Illusion. Trotzdem werden nicht gleich „Gated Communities“ entstehen, wie sie in den Metropolen der USA inzwischen weit verbreitet sind. Kein Maschendrahtzaun und kein Wachdienst wird den neuen Technologiepark und die Villen am See vor dem Prekariat aus den umliegenden Problemsiedlungen schützen müssen. Die Planer im Rathaus zumindest hoffen, dass der Stadtteil insgesamt aufgewertet wird. Es war auch höchste Zeit. Nach der Schließung der großen Fabriken drohte Hörde zu verelenden. Wer konnte, zog weg. Der Bevölkerungsschwund Dortmunds kann mit dem Projekt nicht rückgängig gemacht werden, aber er wird doch etwas gebremst. Zu Beginn der Industrialisierung lebten zehnköpfige Familien in kleinen Zechenhäusern. Später wurden fünfstöckige Mietskasernen gebaut und noch später Wohnklos wie der Hannibal im Dortmunder Norden, der in Dorstfeld oder die Betonklötze in Scharnhorst. Dass die Mittelschicht nicht gleich ins Münsterland ziehen muss, um zu überleben, hat sich erst seit ein paar Jahren herumgesprochen.
Wohltuend ist auch, dass die Planer nicht alles planiert haben. Industriedenkmäler werden an die Zeit erinnern, als das Dunkel der Nacht von den Feuern der Hochöfen vertrieben wurde. Schulklassen werden, ähnlich wie im Landschaftspark Nord in Duisburg, Erkundungen durch die Kolosse aus Rost und Eisen machen, während die Eltern im benachbarten Technologiepark die weitere Zukunft entwerfen. Spannend hierbei: Mit der Nano-Technologie haben die Verantwortlichen der Stadt einen zwar umstrittenen, aber eben auch sehr innovativen Technologiezweig nach Hörde geholt. Auf viele drängende Fragen, sei es die gezielte Behandlung von Krebsgeschwüren, sei es der Hochleistungsakku für Elektroautos, sucht die Nano-Technologie Antworten. Zumindest für die Nachbarschaft beruhigend ist der Umstand, dass gesundheitliche Risiken der Nano-Technologie nicht bei der Forschung zu erwarten sind, sondern eher bei der oft sinnlosen Benutzung entsprechender Produkte wie Autopolituren und Anti-Schweiß-Socken.
Das Besondere des Stadtumbaus natürlich ist und bleibt der See. Dabei musste er auch nicht neu erfunden werden. In vergangenen Jahrhunderten gehörte die Wasserwirtschaft zu den vornehmsten Aufgaben der Städtebauer. Prominentes Beispiel ist die Binnenalster in Hamburg, die sogar etwas kleiner ist als das Hörder Meer. Auch andere Städte, nicht nur Hansestädte wie Dortmund, definieren sich zunehmend durch ihren Standort an Gewässern. Die Promenaden und Hafenquartiere in Düsseldorf und Köln sind zu Szenetreffs geworden. Vielleicht blüht Hörde nun ein ähnliches Schicksal wie Berlin-Kreuzberg. Ein Ghetto für Arbeitslose, Gestrandete und Studenten kann sich schnell in ein angesagtes hochpreisiges Quartier verwandeln. Eine „Chance“ zumindest ist vertan. Dort wo der See ist, kann kein neues CentrO entstehen. Westen- und Ostenhellweg bleiben uns erhalten.
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