Bochum, 23.1. – Die Dokumentarfilmreihe „Stranger than Fiction“ bietet Möglichkeit zum Austausch zwischen Machern und Publikum. Ein besonders intensives Gespräch im intimen Rahmen des Endstation.Kino gelang mit Luzia Schmid und Regina Schilling nach ihrem Film „Geschlossene Gesellschaft“ über die Missbrauchsfälle an der berühmten Odenwaldschule, die Schmid als „traumatisierte Institution“ beschreibt. Es ging nicht darum, einen Opferfilm zu drehen, sondern die Frage zu stellen „Was habe ich damit zu tun?“, und welche Strukturen solche Verbrechen überhaupt möglich machen.
Luzia Schmid erzählt, dass sie über einen Schüleraustausch vor vielen Jahren selbst für einige Zeit in der Odenwaldschule gelebt und damals die besondere Atmosphäre genossen hat. Die Schule der „ganz anderen Art“, ohne feste Lehrpläne und mit einem radikal antiautoritären Erziehungsansatz aus der Reformpädagogik, übte auf viele Freigeister einen magischen Reiz aus. Hier wollte man in Freiheit miteinander leben und lernen. In diesem Kontext kam es zu über 100 Missbrauchsfällen seit 1969, beteiligt der charismatische Schulleiter und berühmte Pädagoge Gerold Becker und mindestens 6 weitere Lehrer.
Schmid wurde als Dokumentaristin hinzu gebeten, als man an der Odenwaldschule nach vielen Jahren inmitten der größten Enthüllungsphase 2009 das Gespräch mit den Opfern fand. Der jahrelange Versuch der Schule, den entsetzlichen Skandal unter den Tisch zu kehren; die Bereitwilligkeit, Einzelne als Verbrecher zu brandmarken, aber die Systematik der Situation nicht zu erkennen; das Unvermögen vieler Betroffener, sich mit dem Missbrauch auseinanderzusetzen: All das ist Teil einer extrem diffizilen Gemengelage, die der Film thematisiert. Umso mehr Achtung hat man vor den Protagonisten der „Geschlossenen Gesellschaft“, denen es ohne Zweifel viel Mut abverlangt haben muss, sich öffentlich über die ungeheuerlichen Vorfälle zu äußern.
Man stellt sich zwangsläufig die Frage, wie die Taten über so einen langen Zeitraum gedeckelt werden konnten. Eine Kontrollinstanz, die hierarchisch über dem Direktor hätte stehen müssen, fehlte. Man lebte im Zeitgeist der sexuellen Revolution. Die Maxime des Schulkollegiums nach der Aufdeckung 1999 sei es gewesen, alles zu tun, „damit das nicht in die Bildzeitung“ kommt und auf keinen Fall der Ruf der Schule geschädigt würde. Anstatt sich um die Opfer zu kümmern und die Verbrechen aufzuklären, stilisierte die Schule sich selbst zum Opfer und trieb Missbrauch mit dem Missbrauch. Wie ein Betroffener es im Film formuliert: „Die haben sich dafür entschieden, es nicht wissen zu wollen.“ Dort wie an anderen Orten können sich Menschen, die Kinder missbrauchen, darauf verlassen, dass ihr Umfeld ihre Verbrechen deckt. Der Film macht klar, wie viel schwieriger eine schmerzhafte, ehrliche Auseinandersetzung ist als wegzusehen.
Dass es sich nicht um wenige Einzelfälle handelte, wurde erst 2009 klar, als auch die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm begannen. Ausgerechnet in den Tagen der Hundert-Jahr-Feier der Odenwaldschule starb der Haupttäter Gerold Becker. Bisher ist kein Täter angeklagt worden.
Einfache Antworten bieten die Regisseurinnen weder im Film noch im anschließenden Gespräch an, aber sie fordern Lehrer und Betroffene und letztendlich auch die Zuschauer auf, sich drängenden Fragen zu stellen. Der Diskussionsbedarf nach dem Film war so groß, dass in kleinem Kreis noch lange engagiert im Kino-Café weitergeredet wurde.
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