Zum Thema Holocaust existieren unzählige Filme. Den einen hängen diese zum Hals raus, die anderen finden, dass diese dunkle Geschichte nicht oft genug thematisiert werden kann. Der Fernseh-Redakteur, den die Regisseurin Alice Agneskirchner für eine Holocaust-Dokumentation interessieren wollte, sah das Filmvorhaben eher skeptisch. Zu viele zu gleich aufgebaute Filme würden langweilen. Aber vielleicht gibt es doch noch unbesprochene Facetten? Alice Agneskirchner forschte in Archiven, ging durch Akten, die die „Arisierung“ Berlins dokumentieren. Sie kannte jede Straße, die in den 30ern „judenrein“ wurde. Bürokratischer Briefverkehr über Mietausfall aufgrund des erzwungenen Auszugs ließ dieses hässliche und für die Juden tödliche Verfahren absurd erscheinen. Die Nähe des Geschehens und damit auch der persönliche Bezug berührte Alice Agneskirchner und ließ sie nicht mehr los. Sie beschloss, das Schicksal einer ausgewählten Familie zur Grundlage ihrer Dokumentation zu machen und stieß auf die Familie Adler. Familie Adler wurde in den 30ern die Erlaubnis entzogen, weiterhin ihre „jüdischen Eier“ zu verkaufen, sie lebte teilweise im Untergrund, wurde von einem jüdischen Spitzel verraten, versuchte ein Familienmitglied mit Behinderung außer Landes zu schaffen. Und es gibt sogar noch eine Überlebende in Israel. Eine Familie, an deren Geschichte sich die Gräueltaten der Nazis gut aufarbeiten lassen – pragmatisch gesprochen. Agneskirchner kam auf die Idee, dieses Schicksal nicht bloß zu dokumentieren, sondern dieses aus Sicht von in Berlin lebenden Israelis zu beleuchten. Eine Idee, die auch ihr Fernseh-Redakteur aufgrund des neuen Ansatzes begrüßte.
Drei junge Protagonisten sollten für ihre Dokumentation „Ein Apartment in Berlin“ die ehemalige Wohnung der Familie Adler naturgetreu rekonstruieren und dabei ihre Befindlichkeiten als „Opfer“ ausdrücken: Die Wohnung nimmt Gestalt an, bestückt mit Fundstücken vom Flohmarkt. Die jungen Israelis, Yael, Yoav und Eyal stöbern in den alten Akten und spekulieren, was sich hinter den bürokratischen Sätzen verbirgt. Doch dann der Bruch. Die drei verweigern sich Agneskirchners Experiment. Sie möchten nicht die Rolle des „Opfers“ einnehmen und eine künstliche Betroffenheit erzeugen. Indem die Regisseurin diesen Bruch zulässt, entwickelt sich ein vielschichtiges Bild einer jungen Generation, die von klein auf mit den Bildern des Holocausts aufgewachsen ist, die sich kaum um Spuren der Nazi-Vergangenheit schert und die Rolle des Opfers endlich ablegen möchte. Wie sehr ihm diese Rolle zuwider ist und wie absurd ihm die ewigen Schuldgefühle der Deutschen erscheinen, macht Yoav überdeutlich. Er lebt schon länger in Berlin, interessiert sich sehr für die NS-Zeit aber auch für alles Deutsche. Er hat eine deutsche Freundin und ein Poster einer übergroßen Germania in seiner Wohnung hängen. Bereits als Kind, wenn statt Cowboys und Indianer „Deutsche und Juden“ gespielt wurde, wollte er immer der Deutsche sein. Der Deutsche gewinnt. Denn wer will schon Opfer sein? Das Opfer verliert. Makaber wirkt dies von außen, hat aber aus Sicht Yoavs eine gewisse Logik. Er darf als Opfer auch Grenzen überschreiten. Wenn er mit einer SS-Uniform durch die Straßen Berlins läuft, wird er beschimpft. Bekennt er sich dann jedoch als Israeli, trifft er auf nachdenkliche Diskutanten. Die Deutschen, so Yoav, die wären gerne die Opfer und suhlen sich daher in ihren Schuldgefühlen.
Im Endstation.Kino bleiben nach Ende des Films verwirrte Zuschauer zurück. Irritierend sei der lockere, nüchterne, teils sogar spöttische Umgang seitens der Israelis mit dem Holocaust. Auch Agneskirchner erzählt, wie sie die Einstellung ihrer drei Protagonisten überrascht hatte. Wie sie sich selbst in der Rolle der ewig schuldigen Deutschen wiedergefunden habe und sie Yoavs Aussage „Dein Holocaust ist nicht mein Holocaust“ bestätigte. Doch trotz aller Irritation zeigten sich die Zuschauer sehr angetan von ihrer Dokumentation und lobten die Offenheit, dem Film in der Entwicklung Raum zu geben und so zu viel aufschlussreicheren Aussagen zu kommen als es durch strenge Vorgaben möglich gewesen wäre. Letztendlich darf sich jeder nach Sichtung des Films die provokante Frage durch den Kopf gehen lassen, ob er sich verantwortungsvoll mit dem Holocaust beschäftigt, um zu erinnern und um nie wieder ähnliches geschehen zu lassen oder ob die Beschäftigung mit dem Holocaust eine reine Sühneleistung darstellt, um sich selbst als Verlierer, als Opfer zu generieren. Was meint historische Verantwortung wirklich?
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