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„Jackie B. – ein Leben in Extremen“
Foto: Birgit Hupfeld

Die blutigen Ecken der Schachtel

29. März 2012

H. Scharpff erarbeitet ein Theaterstück mit Borderlinern - Theater Ruhr 04/12

Für Jackie B. ist der Bluterguss ein Kunstwerk. Farbübergänge und Umrissgestaltung, die ständige Veränderung reichen für sie an anspruchsvollste Ästhetik heran. Sie ist so begeistert davon, dass sie sich regelmäßig selbst neue Hämatome auf Arme, Beine und Rücken beibringt. Hat Jackie B. einen Knall? Ist sie durchgedreht oder einfach nur Masochistin? „Jackie B. – ein Leben in Extremen“ lautet der Titel des neuen Rechercheprojekts von Heike Scharpff am Theater Oberhausen. Das Thema: Borderlinesyndrom. Es geht also um Menschen mit einer instabilen Persönlichkeitsstruktur, die von mangelnder Selbstkontrolle und starken Stimmungswechseln zwischen innerer Leere, Wutausbruch, Selbstabwertung und einem Verhalten ohne Rücksicht auf Konsequenzen geprägt ist.

In Zusammenarbeit mit dem Verein Grenzgänger e. V. hat die Autorin zahlreiche Gespräche geführt, die vom Autor Kai Ivo Baulitz dann zu einem Text umgeformt wurden. Ein gewaltiger Zerrspiegel beherrscht die mit Kühlschrank samt ein paar Gartenstühlen möblierte Drehscheibenbühne: symbolisches Zeichen für die verzerrte Selbstwahrnehmung und das emotionale Merrygoround dieses Krankheitsbildes. Sechs Borderliner schildern in Solo- und Duoszenen ihre (und die anderer) Gefühlszustände: Eine junge Frau beschreibt ihren Körper als eine Schachtel in der Schachtel in der Schachtel, deren Ecken sie gerne mal aufschneiden würde, um das Blut fließen zu sehen. Eine andere berichtet vom wilden Kaufrausch mit der Kreditkarte. „Erst wenn nichts mehr geht, ist alles gut“; ein junger Mann wiederum träumt von der Existenz von Werwölfen, weil er tagsüber gerne bei den Menschen und nachts bei den Wölfen sein möchte. Es sind Bilder aus den wuchernden Gärten der Traumata, die in ihrer Anschaulichkeit teils komisch, teils erschütternd sind. Poetisches Bild und Bekenntnischarakter mischen sich oft ununterscheidbar – was mitunter zu einer merkwürdigen Ästhetisierung führt.

Die Statements mischen sich mit Spielszenen, die von der schwierigen Freundschaft zwischen Jackie A. und Jackie B. erzählen, einer Person in zwei Körpern, verkörpert von den Darstellerinnen Anja Schweitzer und Mareile Blendl. Es ist ein ständiger Anziehungs- und Abstoßungsprozess, Jackie A. lebt mit Familie und Kindern, hat aber Angst, nach Hause zu gehen, weil dort eine Katze lauert, die Infos über sie sammelt. Jackie B. lässt sich von Jackie A. ihre Hämatome nachzeichnen. Die beiden fahren Karussell miteinander, schlürfen Brausepulver mit Wodka, sie prügeln sich und überschütten sich mit Zuneigung. Zwei (oder ein) fiktive „Starkstromcharaktere“, deren Darstellerinnen sich immer wieder bei den echten Borderlinern rückversichern: „Stimmt das für euch?“ Der Abend setzt auf emphatische Anteilnahme und nähert sich gelegentlich bedenklich der Idealisierung dieser psychischen Grenzüberschreitung – am Ende aber bleibt es ein eindrucksvoller, dokufiktionaler Theaterabend.

„Jackie B. – ein Leben in Extremen“ Termine: 13./21.4. I Theater Oberhausen
www.theater-oberhausen.de

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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