1942 wurde das Frachtschiff Struma auf hoher See von einem russischen U-Boot versenkt. An Bord befanden sich neben der Besatzung 762 jüdische Flüchtlinge, die nach Palästina auswandern wollten. Beinahe alle Passagiere starben. Vor diesem historischen Hintergrund schrieb der türkische Autor Zülfü Livaneli seinen Roman „Serenade für Nadja“, den Ebru Tartıcı Borchers nun auf die Bühne bringt.
trailer: Frau Borchers, das historische Schlüsselereignis für „Serenade für Nadja“ geschah vor 80 Jahren, der Roman erschien vor zehn. Viel hat sich in den deutsch-türkischen Beziehungen aber nicht geändert, oder?
Ebru Tartıcı Borchers: Leider nicht, das stimmt. Auf beiden Seiten halten sich immer noch hartnäckig viele Klischees, die Menschen in beiden Ländern haben immer noch wenig Austausch miteinander. Dennoch, vieles sollte in Deutschland eigentlich schon längst nicht mehr fremd sein, vor allem, wenn man an die große Community mit türkischem Hintergrund denkt, die hier in Deutschland seit Jahrzehnten lebt. Deshalb freut es mich auch, dass wir uns nun im Theater Oberhausen mit Zülfü Livaneli, einem Dramatiker, beschäftigen, dessen Roman „Serenade für Nadja“ bisher in viele Sprachen übersetzt wurde, natürlich auch ins Deutsche. Dennoch bleibt er ein Autor, den man hier schon längst besser kennen sollte.
Worum geht es in der Vorgeschichte des Romans?
Es geht vor allem um das rumänische Frachtschiff Struma, das vor allem jüdische Flüchtlinge im 2. Weltkrieg nach Palästina bringen sollte. Es hat nach einer Havarie in Istanbul einen Stopp eingelegt mit der Erwartung, dass die Passagiere dort vielleicht etwas Getreide zum Essen bekommen könnten, weil die Lebensumstände in dem Schiff nicht gut gewesen sind. Sie durften aber leider nicht an Land und auch nicht woanders hinfahren, weil die türkische Regierung von England, aber auch von all den anderen zuständigen Ländern keine Genehmigung dafür bekommen hat. Daraus wurde dann auch eine gemeinsame Schuld, denn kein Land hat diesen Menschen geholfen. Am Ende ist dieses Schiff aus den türkischen Hoheitsgewässern hinausgeschleppt worden und wurde von einem russischen Torpedo versenkt. 762 jüdische Flüchtlinge und die Besatzung sind im Schwarzen Meer ertrunken. Weil keiner diese Tode verhindert oder Hilfe angeboten hat, wurde die Geschichte anschließend lange Zeit totgeschwiegen. Wir erzählen diese Geschichte durch eine Lebensgeschichte eines deutschen Professors.
War das Ereignis damals Anlass oder nur Mittel zum Zweck für den Roman?
Die Torpedierung und dessen Umstände sind eine wahre Geschichte. Der Autor beschäftigt sich immer wieder mit politischen Ereignissen. Vor allem in den Fällen, wo eine internationale Schuld eine Rolle spielen könnte. Deswegen gehe ich davon aus, dass er sich damit beschäftigen wollte. Und, dass er dies mit einer Liebesgeschichte verwoben hat, bringt das ganze Thema dem Publikum etwas näher.
Wie poetisch kann man denn die Bildsprache des Romans im Theater überhaupt adaptieren?
Das ist eine gute Frage. Ich bin im Moment sehr optimistisch, was das angeht, und hoffe, dass es so funktioniert, wie ich es mir erhoffe. Ich habe das Gefühl, dass dieses Buch eigentlich bereits sehr szenisch geschrieben ist. Deswegen war mir schnell klar, dass es total gut ins Theater passen würde. Als ich mit Jascha Fendel, unserem Dramaturgen, die Fassung erarbeitet habe, haben wir gemerkt, dass es sehr viele erzählerische Teile gibt. Ich glaube, mit der Hilfe von Schauspiel, Video, Musik und einigen szenischen Umsetzungen, die ich noch im Kopf habe, gehe ich davon aus, dass das gut funktioniert auf der Oberhausener Bühne.
Eine Frage zu den türkischen Übertiteln: Ist das ein Angebot an die Einwohner Oberhausens mit türkischem Hintergrund oder eher ein zusätzlicher Kunstgriff der Regie?
Das ist tatsächlich ein Angebot. Und es war auch der Wunsch des Hauses, als wir mit der Stückauswahl beschäftigt waren. Wir haben damals nicht zielgerichtet nach so was gesucht, wir haben eher nach einer Geschichte gesucht, die uns anspricht und bei der wir das Gefühl hatten, dass diese Geschichte heute erzählt werden sollte. Und die sollte das deutsche Publikum natürlich genauso interessieren wie das türkische. Diese Geschichte wird beide Besuchergruppen gleich stark interessieren und daher ist es auch gut, dass wir diese Übertitel haben. Das ist ja durchaus auch üblich in großen Theatern in Europa. Man gewinnt als Zuschauer einfach eine weitere Dimension, wenn man beide Sprachen spricht. Die Momente und die sprachlichen Nuancen – da kann man dann sehen, ah ja, so haben sie es auf Türkisch ausgedrückt. Das ist also eher ein Zuschlag.
Was sind die Fallstricke für das Publikum? Sollte man die Vorgeschichte kennen?
Unsere Hoffnung ist, dass man den Abend auch gut verfolgen kann, ohne die Vorgeschichte kennen zu müssen. Es soll ja am Ende wie ein normaler Theaterabend funktionieren, ohne dass man sich dafür vorher informieren muss. Im besten Fall kann man auch kommen, ohne zu wissen, was einen erwartet und wenn am Ende nur ein Bild, ein Teil der Geschichte im Kopf bleibt, ist das schon schön.
Serenade für Nadja | Fr 12.1. 19.30 Uhr (UA) | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84
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