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Dramaturgie der Gleichzeitigkeit: Das Bühnenbild von „Die Borderline Prozession“ überfordert
Foto: Schauspiel Dortmund

Die schrecklichste Nebensache der Welt

17. April 2016

„Die Borderline Prozession“ am 15.4. im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 04/16

Krieg und Wohnzimmer sind nur die dialektischen Seiten einer Medaille. Im Megastore riecht es zunächst nach Möbeleinrichtungsladen: Schlafzimmer, Küche, Garage, WC, Whirlpool – es ist zumindest das, was im spätkapitalistischen Westen für die heimische Stube im Angebot ist. Auf der anderen Seite das raue Außen: Betonmauer, Stacheldraht, eine Trinkhalle, eine Bushaltestelle – ohne Frage: Das Bühnenbild, ein großes abgerundetes Rechteck, ist eines der Highlights der „Borderline Prozession“, die an diesem Abend im Megastore, dem aktuellen Ausweichort des Schauspiel Dortmund, Premiere feiert.

„Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben. Wie auch sonst im Dasein“, steht zu Beginn auf den Leinwänden. Die Unübersichtlichkeit ist Programm: Das gesamte Bühnengeschehen überblickt man nicht, auf beiden Seiten stehen Tribünen, ein Dolly-Kamerawagen kreist um die Bühne, um das Gefilmte auf Leinwänden wiederzugeben. Es ist alles eine Frage der Perspektive.

 

Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin versuchen mit dem Mammutprojekt, auch eine neue Form für das Theater im Digitalzeitalter zu finden. Das Ganze wird nur häppchenweise aus dem jeweiligen Blickwinkel angeboten, fast so was wie eine Youtubeisierung der Bühne. Das Publikum muss zum User werden. Untermauert wird das durch einen philosophischen Überbau: Nietzsche, Deleuze, Schelling oder Hegel geben in Zitaten Cleveres über Perspektive, Ganzes, Bilder oder Gleichzeitigkeit preis. Dabei ist das, was da am Anfang auf der Bühne gezeigt wird, so banal, dass es an Reality-Soaps erinnert: Menschen sitzen in der Küche, schauen Fern, ein Pärchen wälzt sich im Bett und wenn eine der DarstellerInnen sich zum gefühlt zwanzigsten Mal auszieht, um unter die Dusche zu hüpfen, versagt angesichts einer Spielzeit von stolzen 200 Minuten ein wenig die Geduld. Doch die braucht es für das experimentelle Stück. Nach etwa einer Stunde kommt die Durchsage: „Sehen sie sich um!“.

 

Was folgt, ist kein Wendepunkt mehr, sondern ein politisierender Kick-Start, die Bühne gerät zum gesellschaftlichen Panoptikum: Brechtisch verfremdete Soldaten-Gestalten patrouillieren, aus dem Off wird über Jericho erzählt, zwischendurch fallen Schüsse, ein Mädchen weint zusammengekrümmt – eine Ästhetik der Überforderung, die immer wieder in Gewalteruptionen ausartet. Krieg, Terror, Flüchtlingskrise – der Ausnahmezustand wird als grauenvolle Gleichzeitigkeit inszeniert. Auf der anderen Seite der Bühne wird der westliche Alltag zelebriert. Dieses heimische Innen wird schließlich belagert. Gittern und Stacheldraht, den eingespielten Reden von Petry, Hollande oder de Maiziere zum Trotz: Eine Horde Lolitas (denn was kann den Flüchtingskrisen-Diskurs besser verfremden als diese Figuren männlicher Phantasmagorie?) dringen in die heimischen vier Wände ein. Ein lärmender Sturm auf die Festung: Aus den Boxen dröhnt Britney Spears „Oops, I did it again“, Justitia taumelt umher und Napoleon verkündet Jonathan Meese-Parolen, die zu verkünden sind. Ausgeflippt, abgefahren und anstrengend: Die „Borderline Prozession“ ist eine einzige geniale Zumutung. Eine nervenaufreibende Meditation über 2000 Jahre (un)menschliche Kulturgeschichte. Nach Möbelhaus und Wohnzimmer riecht es auch später noch. Nur wird einem davon jetzt schlecht.

Benjamin Trilling

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