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Jessica Weisskirchen
Foto: Lena Wunderlich

„Die Urwut ist ein Motor des Menschen“

31. August 2022

Jessica Weisskirchen über ihre Inszenierung des „Woyzeck“ – Premiere 09/22

Büchners Drama (veröffentlicht 1879) schildert, wie der Soldat Woyzeck, von Armut und Unterdrückung in den Wahnsinn getrieben, zum Mörder wird. Ein Gespräch über die Inszenierung von Ausweglosigkeit und Optimismus.

trailer: Frau Weisskirchen, warum inszeniert man immer wieder so einen hoffnungslosen Fall?

Jessica Weisskirchen: Weil es den Menschen ausmacht, dass er so ein hoffnungsloser Fall ist und dass es ihn trotzdem noch gibt. Deswegen kann man sich auch so einen Text immer wieder vornehmen, das Darstellen hoffnungsloser Fälle zeigt Menschen, die eben trotzdem weitermachen. Ich wurde diese Frage schon öfter gefragt und ich sage immer, ich finde es so faszinierend, dass der Mensch sein eigener limitierender Faktor ist und er trotz des Wissens immer mit einem Lächeln und diesem Optimismus in die Kreissäge läuft. Vielleicht hört sich das dystopisch und furchtbar an, aber ich finde das ist eine wunderbare menschliche Eigenschaft.

Gegen wen richtet sich denn die menschliche Urwut? Den Säbelzahntiger können wir jetzt nicht mehr meinen, oder?

Die Urwut ist ein Motor des Menschen. Auch die Wut ist für mich erstmal ein Antrieb. Sie richtet sich wahrscheinlich gegen einen selber, gegen die Mitmenschen, gegen das Gefüge, gegen das Universum – und auch sie treibt den Menschen immer wieder an, seine Welt zu verbessern. Wut ist für mich auf jeden Fall nicht unbedingt destruktiv.

Die ausweglose Armut, die Büchner beschrieben hat, ist die nicht die tiefe Ursächlichkeit und auch Zeitlosigkeit des Fragments?

Bei uns steht die Armut gar nicht im Fokus. Wir haben das Fragment aus der heutigen Zeit gesehen und wollen überlegen, was passiert, wenn der Mensch trotzdem noch eine Alternative hat? Natürlich haben nicht alle Menschen die gleichen Möglichkeiten, das ist klar. Aber ich denke, es gibt immer wieder noch eine weitere Möglichkeit, sich für etwas anderes zu entscheiden. Man hat also immer mindestens zwei Möglichkeiten. Sich dann aber bewusst oder unter Zwang für eine Wahl zu entscheiden, das ist der interessante Aspekt, den wir versuchen herauszuarbeiten.

Wenn die Stimmen im Woyzeck pathologisch sind, wird dann nicht das Tierische im Menschen obsolet?

Das ist aber eine kniffelige Frage. Also ich würde ja sagen, dass die Stimmen, die Woyzeck hört, dass wir die alle hören. Es ist die Frage, ob jemand vielleicht eine Möglichkeit hat, die zu kanalisieren und die so nicht an die Oberfläche kommen oder jemand hat so einen Zugang zu seinen Emotionen, dass sie oder er pur und instinkthaft quasi darauf reagieren kann. Ich weiß gar nicht, ob das eine gut und das andere schlecht ist, sondern es ist eher die Frage, hat ein Mensch den Zugang zu seinen Grundbedürfnissen und Gefühlen? Ist es also möglich instinkthaft handeln zu können wie ein Tier oder versucht der Mensch sein inneres Tier immer im Käfig zu halten? Was wieder eine Ursache für die Urwut wäre, wenn der Mensch das Tier versucht hinter Gittern zu halten und der Mensch so gesellschaftlichen Normen folgt, die das vorgeben.

Kommen wir mal zur Inszenierung. Das Fragment Woyzeck erträgt an keiner Stelle Mittelmaß, oder?

Wir machen sowieso kein Mittelmaß, wir machen nur High-Class. (lacht) Nein, ich würde sagen, das Fragment ist ein Text, der unheimlich viele Freiheiten zulässt, Freiheit in der Hinsicht, wie man die Szenen anordnet. Dazu hat man auch die Möglichkeit, eine Essenz aus den Figuren zu ziehen, die im Originaltext sehr umfangreich sind, also eine Essenz zu kreieren aus allem, was gesagt wird. Wir haben das auf vier Figuren aufgeteilt, die alle gleichwertig vorkommen.

Aber ist es nicht so, dass der Schauspieler oder die Schauspielerin, die dann die zentrale Figur Woyzeck spielen, die Benchmark für die Inszenierung bleibt?

Wir arbeiten dagegen an. Unser Ziel ist es, den Fokus von Woyzeck wegzulenken und den anderen Figuren im Stück eine größere Präsenz zu geben. Deswegen haben wir auch Text von anderen Figuren umgelegt und so Figuren miteinander verschmolzen, gerade weil wir zeigen wollen, dass alle Figuren wie in einem Trauma ihrer Urwut begegnen. Sie drehen sich alle um sich selbst und auch umeinander. Und wenn wir jetzt nochmal darauf zurückkommen, dass man immer mindestens zwei Entscheidungsmöglichkeiten hat, dann steigt keiner daraus aus. Außer – für unsere Inszenierung – Marie, die muss aber auch mit ihrem Leben dafür bezahlen.

Das Stück spielt ja im kleinen Dortmunder Studio und nicht auf der Großen Bühne. Ist das ein Vor- oder ein Nachteil?

Also ich liebe Studiobühnen, weil man so nah am Publikum dran ist. Und wir haben auch – das darf ich schon mal verraten – die großartige Möglichkeit vom Haus bekommen, die konservative Sitzordnung zu adaptieren und eine Arena-Sichtweise zu ermöglichen, wo das Publikum dann die Spielerinnen und Spieler von allen Seiten sehen kann. Der Voyeurismus des Publikums wird dadurch noch verstärkt. So was geht eigentlich nur auf kleinen Studiobühnen, wo man die Sitzordnung auflösen kann.

Und wie geht man mit dem von Büchner nicht vollendeten Ende um?

Da möchte ich eigentlich noch nichts verraten. Wir als Team haben ganz klar ein Ende und wollen aber dem Publikum überlassen, ob sie das Gleiche in der Geschichte sehen wie wir. Oder ob sie vielleicht noch andere Perspektiven, an die wir vielleicht gar nicht gedacht hatten generieren.

Woyzeck | 9. (P), 11., 23., 29., 30.9. | Theater Dortmund, Studio (Schauspielhaus) | 0231 50 27 222

Interview: Peter Ortmann

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