Hauptsache, die Sauna dampft. Alles andere interessiert die Gäste einer Wellness-Oase nicht, die in einer recht freien Bearbeitung von Hendrik Ibsens „Ein Volksfeind“ am Theater Dortmund zum Schauplatz der Handlung wird. Die Aufgüsse, die die verschiedenen Akte ersetzen, sollen gesund sein, vernebeln in Wahrheit aber nur den Blick auf die Probleme im Hintergrund: Das Spa ist marode, das Wasser verseucht, die Bakterien bevölkern längst das Haus. Doch davon will und soll keiner etwas wissen, erst recht nicht die überforderte Truppe der Angestellten, die verzweifelt versuchen, das Kurbad am Laufen zu halten. Immerhin hängen etliche Jobs an diesem Betrieb, da kann man sich Moral einfach nicht leisten. Und so lange nur alle schön schwitzen, ist doch alles halb so schlimm. Oder?
Die freie Theaterautorin Julienne de Muirier hat Ibsens Drama fast vollständig auf den Kopf gestellt. Unter anderem ergänzt sie den Stoff durch Gedanken des Philosophen Walter Benjamin und das moderne Konzept des Hydrofeminismus – letzteres basiert auf der Fluidität von Körpern und dem Ziel, Menschen als Wasserwesen eine gewisse Verbindung mit der Welt bewusst zu machen. Die naturalistische Tragödie, die der Norweger 1882 als Antwort auf die harsche Kritik an seinen reaktionären Dramen „Nora oder Ein Puppenheim“ und „Gespenster“ verfasste, hat de Muirier in eine absurde Katastrophenkomödie umgeschrieben, in der das Verhältnis von Mensch, Natur und Ressourcen in den Mittelpunkt gestellt wird. Der Machtkampf zwischen den Brüdern Stockmann, dem Arzt und dem Stadtvogt, spielt in dieser Lesart nur eine untergeordnete Rolle und geht in den Diskussionen unter den Sauna-Mitarbeitern auf. Die denken durchaus darüber nach, die Missstände ans Licht zu bringen, können sich die Wahrheit aber einfach nicht leisten. Das Publikum übernimmt die Rolle der schweigenden Gäste, die einfach genießen sollen – unter anderem bereitet das Ensemble wohl den Einsatz eines Mango-Minz-Aufgusses vor. Dann ist der drohende Untergang ja auch egal.
Ein Volksfeind | 9. (P), 10., 17.3., 10.4. | Schauspielhaus Dortmund | www.theaterdo.de
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