Ein groteskes Geschwader der Überwachung umschwirrt den Gefangenen. Er wird von einem sechsköpfigen Wächter-Chor beäugt, untersucht, inspiziert. Nichts soll ihnen entgehen, nicht der Hauch einer Regung. Denn das Opfer mit Namen James Larkin White, der da unrasiert im hellen Leinenanzug herumlungert, soll endlich seine Identität preisgeben: nämlich nicht White, sondern der verschwundene Anatol Ludwig Stiller zu sein. Max Frischs legendärer Roman „Stiller“ von 1954 erzählt vom Kampf gegen die eigene Identität als gesellschaftlichem Zwang, dem man sich nicht entziehen kann. White/Stiller (Michael Kamp) wehrt sich unablässig mit dem immer gleichen Satz „Ich bin nicht Stiller“ und wird darüber zum Spielball einer grotesken Justiz. Der alerte Rechtsanwalt (Daniel Stock) präsentiert Beweis um Beweis, um seinem Mandanten auf die Sprünge zu helfen und vollführt Veitstänze der Verzweiflung, als nichts helfen will. Der Staatsanwalt Rolf (Matthias Redlhammer) gibt den Good guy, lässt von der eigenen Frau grüßen und spendiert Zigarre und Whiskey.
Regisseur Eric de Vroedt lässt die Figuren um White aus dem Wächterchor hervorgehen und evoziert dadurch eine kafkaeske Unausweichlichkeit der Macht, die zugleich wie eine schlechte Scharade wirkt. Da werden Krankenbetten wie bei einem Tanz umhergerollt, aus den sechs Türen des Gefängnishofes (Bühne: Maze de Boer) schnellt das Personal hervor. Das Spieltempo verfällt mitunter in Zeitlupe. Potenziert werden diese Effekte durch den Auftritt eines White/Stiller-Doubles (Damir Avdic), der herbeizitierte Szenen aus dem Leben von Stiller ausagiert: inszenierte Erinnerung, die wie ein leitmotivisches Geflecht den Abend durchzieht. Da wird die gesamte Liebesgeschichte zwischen Stiller und seiner Frau Julika aufgerollt. Therese Dörr im mintfarbenen Kostüm spielt sie weniger als ätherische Balletteuse, denn als durchaus handfeste Geliebte, die später wegen Tuberkulose auf ihrem Zauberberg residiert und in einer der bewegendsten Szenen des Abends Stiller vorwirft, sie auf ein Bild festlegen zu wollen.
De Vroets Einsatz eines Stiller/Whiteschen Alter Ego erhebt die Konstruktion von Identität selbst zum Bühnenvorgang, bei dem das Ich als Rolle gedeutet wird. Nach der Pause rückt der Staatsanwalt und damit die Kontrastierung seiner bürgerlichen Ehe mit Sibylle und der Künstlerehe zwischen Stiller und Julika ins Zentrum. Damit gewinnt die Inszenierung erheblich an Dichte und an Intensität. Vor allem Bettina Engelhardt als Sibylle, die sich von Rolf lossagt, in New York lebt, um schließlich in die bürgerliche Existenz als Staatsanwaltsgattin einzuwilligen, gelingt eine enorme psychologische Triftigkeit. Dies allerdings geht auf Kosten des zentralen Stillerschen Identitäts-Konflikts. Nichtsdestotrotz eine sehenswerte Inszenierung, die mitunter weit mehr überzeugen kann als manche der Bochumer Schauspieler.
„Stiller“ | R: Eric de Vroedt | Fr 6.5., Sa 14.5. 19.30 Uhr | Bochumer Schauspielhaus | 0234 33 33 55 55
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